Vorwort zur Tagung:
„Die Würde des Menschen darf nicht mehr angetastet werden!
Eine neue Sozialpolitik für pflegebedürftige Menschen?"
So lautete der Titel unserer sozialpolitischen Tagung am 16. April
1999 im Gustav Heinemann-Haus in Bonn. Eingeladen hatten wir, das Forum
selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen, ForseA e.V., in Kooperation
mit der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland, ISL e.V.
Finanzielle Unterstützung erhielten wir im Rahmen der „Aktion
Grundgesetz".
Die TagungsveranstalterInnen erhoffen sich verständlicherweise
reges Interesse und eine große TeilnehmerInnenzahl. Bei der Planung
dieser Veranstaltung gingen wir, von vielen als Optimisten belächelt,
von rund 100 TeilnehmerInnen aus. Dass es letztendlich fast 190 werden
sollten, wagte niemand von uns auch nur zu träumen. Doch gerade
diese große TeilnehmerInnenzahl bewies Aktualität und Wichtigkeit
des Themas.
Behinderte Menschen, ihre Freunde und Angehörigen, aber auch VertreterInnen
der verschiedensten Organisationen und nicht zuletzt PolitikerInnen
waren aus dem gesamten Bundesgebiet zu dieser Tagung angereist. Die
„bunte Vielfalt" an TeilnehmerInnen demonstrierte eindrucksvoll,
dass nicht nur eine kleine Gruppe von Menschen Probleme mit der aktuellen
Gesetzgebung im Alltagsleben haben. Im Gegenteil: ob alt oder jung,
körperlich, geistig oder seelisch beeinträchtigt, mit den
Gesetzen und manch mißbräuchlicher, willkürlicher und
falscher Auslegung der Gesetze durch die Behörden können sehr
viele von uns mehr schlecht als recht leben. Eine gleichberechtigte
Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, wie sie das
Grundgesetz mit Artikel 3, Absatz 3 zusichert, scheint häufig ein
unerfüllbarer Wunschtraum zu sein.
Mit unserer Tagung wollten wir Probleme anhand von konkreten Fallbeispielen
belegen. Daher legten wir sehr viel Wert darauf, ReferentInnen aus allen
Bereichen einzuladen. Wir wollten aber auch unsere Vorstellungen und
Forderungen nach einer neuen Gesetzgebung aufzeigen.
Der, nicht zuletzt durch unsere Wählerstimmen erst mögliche,
Regierungswechsel war für behinderte, chronisch kranke und alte
Menschen mit der Hoffnung auf eine menschenwürdigere Sozial- oder
besser Menschenrechtspolitik verbunden. Diese Hoffnung, aber auch die
damit verbundenen Forderungen sollten der neuen Regierung vermittelt
werden.
Als Ansprechpartnerinnen der Regierung nahmen Gesundheitsministerin
Andrea Fischer und Regina Schmidt-Zadel, behindertenpolitische Sprecherin
der SPD, teil. Andrea Fischers Beitrag bekam besondere Bedeutung, da
sie sich im Rahmen dieser Veranstaltung erstmals öffentlich zum
Thema Pflegeversicherung äußerte. Doch auch Regina Schmidt-Zadels
Aussagen stellten ihre Fachkompetenz unter Beweis.
Horst Frehe, Mitglied des Forums behinderter JuristInnen analysierte
die Schwachstellen der Pflegeversicherung. Er stellte weiterhin dar,
wie eine menschenwürdigere Pflegeversicherung aussehen muss. Nicht
zuletzt die rege Beteiligung der TagungsteilnehmerInnen, in den aus
Zeitgründen leider viel zu kurzen Diskussionsrunden, unterstrichen
die Aussagen der ReferentInnen.
Diese Dokumentation soll anhand der Beiträge der PolitikerInnen
und Referentinnen die Quintessenz der Veranstaltung zusammenfassen.
Dazu haben wir der leichteren Lesbarkeit halber die schriftlichen und
nicht die mündlichen Texte verwendet. Wir haben uns jedoch bemüht,
anhand der Videoaufzeichnungen einige der wichtigsten und prägnantesten
Aussagen, bzw. Erwiderungen der anwesenden Politikerinnen im Anschluss
an die schriftlichen Beiträge zu zitieren.
Eine fast komplette Videoaufzeichnung – nur wenige Minuten der
gesamten Veranstaltung fehlen - kann gegen einen Kostenbeitrag von 20
DM bei uns bestellt werden. (Anschrift im Impressum).
Einleitung
Ich freue mich sehr, Sie im Namen des Forums selbstbestimmter Assistenz
behinderter Menschen, der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben,
Deutschland und aller weiteren unterstützenden Organisationen zu
unserer Tagung „Die Würde des Menschen darf nicht mehr angetastet
werden! Eine neue Sozialpolitik für pflegebedürftige Menschen?"
begrüßen zu dürfen. Besonders bedanken für ihr
Kommen möchte ich mich bei Gesundheitsministerin Andrea Fischer
und der behindertenpolitischen Sprecherin der SPD Regina Schmidt-Zadel
sowie allen PodiumsteilnehmerInnen. Ich bedanke mich auch bei der Aktion
Sorgenkind, die durch ihre finanzielle Unterstützung im Rahmen
der Aktion Grundgesetz diese Tagung maßgeblich fördert.
Ich möchte keine weiteren Namen nennen, da ich ansonsten niemanden
hervorheben oder zurückstellen möchte. Mir sind alle TeilnehmerInnen
gleich wichtig, sei es als VertreterInnen der Parteien, als Verbandsfunktionäre
und erst recht als betroffene behinderte Menschen oder ihre AssistentInnen.
Am 31. Mai 1995, kurz nach Einführung der Pflegeversicherung, kamen
zahlreiche behinderte Menschen nach Bonn. Wir trafen uns vor dem Bundestag
- nein, nicht um zu demonstrieren, schließlich befanden wir uns
in der Bannmeile - sondern um unsere Bundestagsabgeordneten zu „besuchen"
und unsere Probleme mit der Gesetzgebung, insbesondere der Pflegeversicherung
und dem BSHG darzustellen. Damals meinte Ottmar Miles-Paul: „Wenn
es sein muss, kommen wir wieder". Und wir kamen noch einige Male
und sind auch heute wieder da, zahlreicher denn je. Denn unsere Probleme
sind nicht nur geblieben, sondern haben sich im Gegenteil durch die
aktuelle Gesetzgebung weiter verschärft.
Gewechselt hat - nicht zuletzt durch unsere Stimmen - die Bundesregierung.
Und auch darum sind wir heute hier. Wir wollen nicht jammern und klagen,
sondern die Situationen der betroffenen Menschen sachlich schildern.
Wir hören die Erfahrungsberichte behinderter Menschen in den verschiedensten
Lebenssituationen. Einige können nicht selbst kommen - warum das
so ist, werden die Berichte sicher eindrucksvoll verdeutlichen. Doch
sie schicken uns ihre VertreterInnen, um ihre Problem darzustellen.
Wir sind auch nicht als Bittsteller gekommen, sondern als BürgerInnen,
die nicht auf Almosen, sondern auf Nachteilsausgleiche angewiesen sind
und eine entsprechende Gesetzgebung als Basis für ein gleichberechtigtes
Leben trotz Assistenzbedarfs fordern.
Von den PolitkerInnen erwarten wir Stellungnahmen zu ihrer künftigen
Politik für behinderte - hier insbesondere auf Assistenz angewiesene
- Menschen. Wir erwarten eine Gesetzgebung, die uns als Menschen achtet
und uns nicht zu Kostenfaktoren degradiert. Und wir bieten uns an, als
Sachverständige, als Gesprächs- und VerhandlungspartnerInnen,
wenn es um die Gestaltung und Erarbeitung von Gesetzesentwürfen
geht. In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine spannende und
konstruktive Veranstaltung.