Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner
Hamburg, den 6.5.2003
Offener Brief an
den Bundestagspräsidenten
den Bundespräsidenten und
den Bundeskanzler
anlässlich des
„Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung"
zu ihrer Verantwortung für einen behindertenfeindlichen Kern unserer
Gesetzgebung - können Sie damit gut schlafen?
Sehr geehrte Herren, auf den diversen Veranstaltungen dieses „Europäischen
Jahres" haben Sie sich eindrucksvoll zu dessen Zielen bekannt:
Selbstbestimmung, Teilhabe, Barrierefreiheit. (Applaus!) Wenn Ihr Bekenntnis
hinreichend tragfähig wäre, wenn Sie also es wirklich wissen
wollten, könnten Sie von sämtlichen Kostenträgern und
von allen einschlägigen Bundes- und Landesministerien einmütig
hören: „Wir wissen, dass in allen Heimen für Behinderte
und Pflegebedürftige durchschnittlich mindestens ein Drittel Bürger
leben, die mit ambulanter Betreuung, kommunal integriert, in einer eigenen
Wohnung Selbstbestimmung, Teilhabe und Barrierefreiheit viel vollständiger
verwirklichen könnten."
Aber die Heimträger und ihre Verbände, gerade auch die Gottverpflichteten
- die das unter vier Augen gern zugeben, rücken diese Bürger
nicht heraus, weil sie nicht an Größe, Geld und Macht verlieren
wollen; Freiheitsberaubung im Amt. Dagegen waren wir immer schon ohnmächtig,
schon seit der Gesetzgeber 1961 im Bundessozialhilfegesetz die Norm
„ambulant vor stationär" vorgeschrieben, aber kaum
einen Finger gerührt hat, um diese Norm auch durchzusetzen.
Und seit der Gesetzgeber in den 1990er Jahren das Soziale dem Markt
geöffnet hat, um die Einzelleistung zu verbilligen, lachen uns
die Heimbetreiber als nun freie Unternehmer vollends aus, kompensieren
den Geldverlust durch Mengenwachstum, indem sie immer neue Bedarfe behaupten.
Wir dürfen ihnen nicht mal - wie beim Krankenhausbedarfsplan -
einen regionalen Heimbedarfsplan vorgeben, obwohl doch gerade bei einer
Heimaufnahme unvermeidlich Persönlichkeitsrechte beeinträchtigt
werden, weshalb es ja auch die staatliche Heimaufsicht gibt, die diesbezüglich
aber ebenso ohnmächtig ist.
Die Heimbewohner, denen man verschweigt, dass sie das Heim gar nicht
bräuchten, werden so erst zu den „Letzten" gemacht,
zu der Sprachlosesten, für die sich niemand mehr interessiert.
Dafür dürfen sie sich im Heimbeirat ums Mittagessen streiten.
Sie sind - obwohl staatlich besonders schutzbedürftig - dem Markt
zum Fraß vorgeworfen. Und da es - mit steigender Tendenz - jetzt
schon mindestens 300.000 Bürger sind, ist dieses neue Verfahren,
egal wie viel Kontrollen wir nachschieben, so kostentreibend, dass das
Heimsystem - als die größte behindertenfeindliche Barriere
- so kostentreibend, dass wir als Kostenträger bald pleite sein
werden und daher den Bürgern beichten müssten, wie sinnlos
wir ihre Steuern und Beiträge verschleudern.
Sehr geehrte Herren, hat denn angesichts dieser Tatsachen, von denen
Sie spätestens ab heute nicht mehr sagen können, Sie wüssten
sie nicht, die Bundesanstalt für Arbeit so unrecht, wenn sie am
6.5.03 als Antwort auf den Protest gegen ihre Kürzungspolitik erklärt,
„auch etablierte Träger müssten sich der Frage stellen,
ob ihre Arbeit tatsächlich zur Integration führe"?
Vielleicht sollte ich auch noch daran erinnern, dass andere Länder
früher Lehren aus den Verbrechen Nazi-Deutschlands gegen Behinderte
gezogen haben und auf dem Wege einer jahrzehntelangen, konsequenten
Deinstitutionalisierung heute keine Heime für Behinderte mehr kennen
- wie Schweden und Norwegen.
Und wenn Sie sich - abschließend - vorstellen würden, jemand
aus Ihrer Familie würde wegen Behinderung oder Pflegebedürftigkeit
heimbedürftig, Sie erführen jedoch von einer ambulant-kommunalen
Alternative - würden Ihnen dann nicht die Menschen- und Bürgerrechte
einfallen, auch unser Grundgesetz, das die (bei Heimaufnahme unvermeidliche)
Einschränkung von Persönlichkeitsrechten zwar gestattet, jedoch
an die Bedingung der alternativlosen Erforderlichkeit knüpft? Und
für immer mehr Fälle gibt es nur mal erprobte ambulant-kommunale
Alternativen, durchaus bürgergesellschaftlich getragen, so dass
Anzeichen dafür sprechen, dass in diese zugegeben schwierigen Frage,
die uns in der Tat den Schlaf rauben sollte, die Bürger und die
Bürgergesellschaft schon weiter sind als der Gesetzgeber.
Genau dafür war und ist die von uns angeregte Bundestags-Heimenquete
gedacht, damit wir hinter anderen Ländern nicht noch weiter zurück
fallen. Ãœber diese Heimenquete ist immer noch nicht entschieden,
sie ist immer noch in der Schwebe. Sie können also das „Europäische
Jahr der Menschen mit Behinderung" noch zum Erfolg führen
- und zwar für alle behinderten und pflegebedürftigen Bürger,
angefangen vom letzten her.
Mit allen guten Wachsamkeitswünschen
Klaus Dörner