Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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12.01.2017 Offener Brief an Herrn Bundespräsidenten Gauck und andere

Offener Brief an

Herrn Bundespräsidenten Gauck,
die Mitglieder der Bundestagsausschüsse Haushalt, Gesundheit, Arbeit und Soziales
sowie an die Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder zur Kenntnis

Das neue Bundesteilhabegesetz (oder ehrlicher: Teilhabeverhinderungsgesetz)

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck,
Sehr geehrte Damen und Herren,

die Tinte der Unterschrift des Herrn Bundespräsidenten war vermutlich noch nicht ganz trocken, als ich bereits meinen Einstellungsbescheid des Sozialhilfeträgers am 29.12.2016 in Händen hielt. Bezugnehmend auf die neue Gesetzgebung wurde die Erstattung meiner Assistenzkosten eingestellt. Nun soll, nach 65 Jahren Behinderung, der Bedarf neu festgestellt werden. Gleichzeitig wird der „zumutbare" Eigenanteil von 40 auf 60 Prozent der Einkommensüberschreitung erhöht. Unter dem Link: http://tinyurl.com/ze9rk5a können Sie den Bescheid einsehen. Inhalt und Tonlage entsprechen dem, was ich seit 1990 von dieser Behörde kenne. Unter demselben Link erhalten Sie meinen Lebenslauf, soweit dieser meine Behinderung betrifft. Dies alles unter Bezug auf ein Gesetz, das wir uns seit 2009, dem Jahr des Inkrafttretens der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland regelrecht herbeigesehnt haben. Denn wir dachten nicht im Traum daran, dass dieses Gesetz dazu missbraucht wird, den Behördendruck auf uns noch weiter zu erhöhen. Noch weniger haben wir einkalkuliert, dass der Gesetzgeber hierzu Beihilfe leistet, indem er sich wesentliche Inhalte durch interessierte Kreise - die Rede ist nicht von behinderten Menschen, obwohl diese in einen Scheinbeteiligungsprozesse einbezogen wurden - diktieren ließ.

Der Bundesverband ForseA, dessen Vorsitzender ich bin, hat die oben erwähnten Abgeordneten in den letzten vier Monaten mehrfach angeschrieben und auf die sich aus dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) ergebenden Folgen hingewiesen. Wir haben darauf aufmerksam gemacht, dass unsere Grundrechte massiv beeinträchtigt werden und dass auch die Behindertenrechtskonvention Schaden nehmen wird. Dennoch hat das Bundesteilhabegesetz weit mehr als die erforderlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat erhalten. Unsere Hoffnung ruhte danach auf dem Bundespräsidenten: Auf dessen Internetseite ist zu lesen: „Zuvor (Anm. vor der Unterschrift) hat er zu prüfen, ob sie nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen sind. Nach der Staatspraxis und der herrschenden Meinung umfasst dieses Prüfungsrecht sowohl formelle Gesichtspunkte (Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften) als auch materielle Fragen (Grundrechte, Staatszielbestimmungen, Staatsorganisationsrecht)."

Aufgrund der Hinweise, dass das neue Gesetz unsere Rechte massiv verletzt, antwortete das Bundespräsidialamt: „Im Rahmen der Ausfertigung von Gesetzen hat der Bundespräsident allein deren Verfassungsmäßigkeit, nicht aber die Zweckmäßigkeit einzelner gesetzlicher Regelungen zu überprüfen. Das hat er auch bei dem von Ihnen beanstandeten Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz) unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts getan. Nach eingehender Prüfung ist er dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Verfassungsverstoß, der allein ihn hätte berechtigen können, die Ausfertigung zu verweigern, nicht vorliegt. Der Herr Bundespräsident hat daher – der Verfassung verpflichtet – das Gesetz unterschrieben und den Auftrag zur Verkündung im Bundesgesetzblatt gegeben."

In unserer Kritik stand immer die Verfassungsmäßigkeit. „Zweckmäßigkeit" war nie das Kriterium der Behindertengesetze, wenigstens nie für die Zwecke, für die behinderte Menschen sie gebrauchen könnten. Seitdem ich mit dieser Materie zu tun habe (1990), wird mir stets das Gefühl vermittelt, Schmarotzer zu sein, deren Ansprüche natürlich überzogen sind und deshalb abgewehrt werden müssen. Nun, die Hoffnung, dass sich dies mit dem Bundesteilhabegesetz bessert, hat sich dank der Legislative und Exekutive (vermutlich sogar umgekehrt) zerschlagen.

Der Bundespräsident hat also vermutlich aufgrund eines offensichtlichen Missverständnisses das Gesetz gegen uns in Stellung gebracht. Mein Beispiel wiederholt sich derzeit täglich bundesweit in vielfacher Weise. Wir bekommen unzählige Berichte und Hilferufe, dass Bescheide aufgehoben und bestenfalls nur noch mit einer Laufzeit von einem Monat erlassen werden. Zu groß ist die Angst der Verwaltung, nicht jeden Cent Ersparnis zu erreichen.

Auf diese Weise wird es ein sehr lautes Jahr 2017 werden. Denn im Unterschied zu vielen Schreihälsen auf den Straßen haben wir allen Grund, unsere Stimme zu erheben. Wir wurden vom Gesetzgeber um die Errungenschaften der Behindertenrechtskonvention betrogen! Und dieser Gesetzgeber erdreistet sich, festzulegen, in welchen homöopathischen Dosierungen uns Grundrechte zustehen, was der Gesellschaft zuzumuten sei. Wir sind nicht nur enttäuscht, nein, wir sind sehr zornig, da wir wieder nicht als Bürgerinnen und Bürger unseres Staates wahrgenommen wurden! Unsere berechtigten Forderungen wurden von Frau Ministerin als „Wünsche" abgewertet. Erschwerend kommt hinzu, dass das Gesetz handwerklich außerordentlich schlampig gefertigt wurde und von daher ebenfalls Anlass zu vielen Auseinandersetzungen gibt.

Unser Zorn und die grenzenlose Enttäuschung richtet sich auch darauf, dass wir in der Endphase der Gesetzwerdung zahlreiche Briefe an den Gesetzgeber gerichtet haben und von Seiten der CDU/CSU/SPD keine substantielle Antwort erhalten haben. Stattdessen wurde von dort vermutet, dass wir von der Opposition missbraucht und auf die Bäume gejagt wurden. Es war wohl eine gewaltige Suggestion durch das BMAS erforderlich, um Ihnen so den Blick auf die Wirklichkeit zu verstellen.

So geht man mit lästigen Schmeißfliegen um, sehr geehrte Damen und Herren, aber nicht mit ernsthaft vorgetragenen Argumenten behinderter Menschen und ihren Vereinen und Verbänden!

Die Rechnung wird Ihnen hoffentlich im September präsentiert werden. Die Kostenträger werden durch die Um-setzung Ihres Freibriefes dafür sorgen, dass die Unruhe erhalten bleibt. Eine Vielzahl von Widersprüchen und Klagen wird Zeugnis von der Qualität dieses unsäglichen Gesetzes ablegen.

Hochachtungsvoll
FORUM SELBSTBESTIMMTER ASSISTENZ BEHINDERTER MENSCHEN E.V.
Gerhard Bartz, Vorsitzender

 

 

 

 

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