Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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Der lange Weg zur Selbstbestimmung - Der Anfang eines anderen Lebens

Elke Bartz

von Elke Bartz

"Das arme Kind wird wach. Klingeln Sie dem Arzt oder soll ich? Wir sollen uns doch sofort melden, wenn sie sich rührt."

Das waren die ersten Worte in meinem anderen Leben, die ich hörte. Sie betrafen mich, denn ich hatte wohl gestöhnt und die Aufmerksamkeit meiner Zimmernachbarinnen auf mich gezogen. Es kann nur ein Laut und keine Bewegung gewesen sein, denn Bewegung war etwas, dass mir noch lange Wochen fast komplett unmöglich sein sollte. Zu diesem Zeitpunkt erschien es mir allerdings rätselhaft, warum ich "ein armes Kind" sein sollte.

Wir hatten Dienstag, den 3. Februar 1976, 7 Uhr morgens, der Jahreszeit gemäß also noch dunkel draußen. Auch in dem Raum, in dem ich mich befand, brannte nur ein spärliches Licht.

Wenige Momente nach dem kurzen Wortwechsel meiner Zimmerkolleginnen betraten zwei Männer - sehen konnte ich sie nicht, nur hören - das Zimmer. Ich fragte noch ziemlich benommen, wo ich sei und was geschehen ist. "Im Soester Krankenhaus", lautete die Antwort. "Sie hatten letzte Nacht einen schweren Autounfall und haben sich zwei Halswirbel gebrochen". Auf meine spontane Frage, ob ich jetzt gelähmt sei, reagierten die Ärzte entsetzt. Vermutlich hatten sie nicht damit gerechnet, dass ich wusste, was es heißt, sich die Wirbelsäule zu brechen.

Mir wurde erklärt, ich läge nur im normalen Zimmer und noch nicht auf der Intensivstation, da diese erst am Vortag eingeweiht worden war und nun noch gereinigt und desinfiziert würde. Doch dann hatte ich die Ehre, zusammen mit einem alten Mann, der kurz darauf verstarb, die neue Intensivstation in der Praxis einzuweihen.

Eine gebrochene Wirbelsäule bedeutet, nicht mehr laufen zu können. Damit wusste ich vermutlich schon einiges mehr als andere Zwanzigjährige. Was aber mit einer Halswirbellähmung sonst noch für Feinheiten verbunden sind wie Blasen- und Mastdarmlähmung, gestörte Atmung und Temperaturregulierung des Körpers, Sensibilitätsstörungen usw. usw., ahnte ich damals noch nicht.

Nächste Station: Die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik "Bergmannsheil" in Bochum

Vier Tage nach dem Unfall wurde ich mit einem Hubschrauber in die Berufsgenossenschaftliche Klinik "Bergmannsheil" in Bochum geflogen. Selbst dort auf der Station für Rückenmarksverletzte, sagten die Ärzte mir lange Zeit nicht, was noch alles auf mich zukommen würde.

Die Soester Ärzte hatten in ihrer freundlich direkten Art noch angekündigt, ich müsse mit etwa einem Jahr Krankenhausaufenthalt rechnen. Am Ende könnte ich vielleicht und mit viel Glück ein paar Stunden täglich im Rollstuhl sitzen. Vielleicht aber auch nicht.

So dauerte es etliche Wochen, in denen ich zwar einige Verbesserungen spürte, doch wurde es mir erst nach und nach bewusst, dass meine Fingerfunktionen wohl nie mehr wiederkommen würden. Typisch Tetra halt! (Tetraplegie - Halswirbellähmung mit Funktionsbeeinträchtigung bzw. -verlust aller vier Extremitäten)

Mir war damals klar, "gesund" würde ich nie mehr werden können. Doch hegte ich die große Hoffnung, eines Tages wieder unabhängig von Hilfe zu werden. Nicht mehr angewiesen sein auf Hilfe beim Essen, bei der Körperpflege, beim Anziehen, Übersetzen in den Rollstuhl und tausend anderer alltäglicher - für nicht Behinderte ach so selbstverständlicher - Handgriffe. Und vieles kam tatsächlich wieder. Essen kann ich allein - wenn es mir jemand zuvor mundgerecht zubereitet (MDK-Jargon). Mich alleine komplett zu waschen, anzuziehen und vieles andere mehr, habe ich trotz vielen Übens und vieler Quälerei nicht geschafft. Dafür kann ich Auto fahren, mit Tipphilfen am Computer schreiben und etliches andere. Doch einige Stunden lang alleine sein ist unmöglich. Dafür gibt es zu viele Situationen, in denen ich plötzlich auf Hilfe angewiesen bin. Und die brauche ich dann sofort, nicht erst in einer halben Stunde oder gar noch später.

Zurück zum Krankenhaus: Es war klar, dass es auch "eine Zeit nach dem Krankenhaus" geben würde. Nur ganz und gar nicht klar war, wie diese aussehen könnte. Mein damaliger Ehemann, der den Unfall verursacht hatte, würde die Pflege nicht übernehmen können. Daran gab es keinen Zweifel. Zum einen musste er ja seiner Berufstätigkeit nachgehen. Zum anderen ekelte er sich schon, wenn er beim Stuhlgang helfen musste.

Außerdem hatte ich einige Monate vor dem Unfall eine Sendung über Behinderte sowie über Frauen mit Brustamputation gesehen und nach einer Krebserkrankung gefragt, ob er wohl bleiben würde, wenn es mich eines Tages träfe. Ich könnte ja auch krank werden oder schwer verunglücken. Niemand könnte sicher sein, immer gesund zu bleiben. Seine Antwort: "Ich glaube nicht, dass ich mit einem Krüppel zusammenleben könnte".

Zurück zu den Eltern in die Abhängigkeit, nachdem ich schon gut drei Jahre meinen eigenen Haushalt hatte, wollte ich auf keinen Fall. Mein Vater unterstützte mich während der Krankenhauszeit sehr. Täglich kam er mit meiner Stiefmutter ins Krankenhaus. Doch war er selbst gerade frisch verheiratet. In diese noch recht junge Beziehung wollte ich nicht "einbrechen". Meine Mutter hatte ihrerseits genug mit meinen vier jüngeren Geschwistern zu tun. Sie wäre hoffnungslos überfordert gewesen.

Daher sah ich lange Zeit keine düstere Zukunft, sondern überhaupt keine, obwohl mir die Ärzte noch eine Lebenserwartung von zwölf Jahren prophezeiten. - Die habe ich mittlerweile, sehr zum Ärger meiner Autohaftpflichtversicherung, um mehr als das Doppelte überschritten.

So verhasst den meisten frisch Verletzten in den ersten Wochen und Monaten das Krankenhaus mit seinen Geräuschen, den Gerüchen und dem vollkommenen Verlust von Intimsphäre zunächst ist, so wächst es langsam zum Schutzraum heran. Hier kennt einen niemand als nicht Behinderter. Hier wissen alle Ärzte, Schwestern, Therapeuten und vor allem die anderen Patienten, was eine Querschnittslähmung bedeutet. Hier schämt sich niemand im Rollstuhl zu sitzen. Niemand wird blöd angeglotzt. Hier wird über Stuhlgangprobleme und Inkontinenz offen geredet, werden Erfahrungen ausgetauscht, über Zukunftsängste gesprochen.

Anders ist es draußen, wenn man die anstarrenden Blicke beim Ausflug aus dem Krankenhaus erstmals spürt. Nicht für alle, aber für sehr viele ist auch der erste Wochenendurlaub zu Hause mit traumatischen Erinnerungen verbunden. Sogenannte Freunde blicken weg, drehen sich verlegen um, damit sie ja nicht "Guten Tag" sagen müssen.

Andere meinen mitleidig über den Kopf der Betroffenen hinweg zu ihren Begleitern: "Wie gut, dass sie/er im Kopf noch normal ist". Warum sie das zu den Angehörigen sagen, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Anscheinend sind wir wohl doch nicht so ganz normal. Ganz schlimm wirken Sätze wie: "So wie du jetzt möchte ich nicht leben". Das baut auf, das macht Mut, zuversichtlich in eine Zukunft zu sehen, die einen behindert macht. Perspektiven zu entwickeln fällt so unendlich schwer.

Doch irgendwann naht der Tag der Entlassung und alles muss stimmen: Die Pflege muss gesichert sein. Eine Wohnung muss gefunden oder barrierefrei umgebaut werden. Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation müssen in Erwägung gezogen oder eingeleitet werden. Alles soll passen in einer Situation, die noch so schrecklich fremd und bedrohlich erscheint. So gut meine medizinische Rehabilitation war, so schlecht stellte sich die soziale Beratung dar.

Kein Wunder, dass viele Angehörige in diesem Stadium mit ihrer Überforderung weglaufen, sofern sie es nicht schon früher getan haben. Die Betroffenen haben diese Chance des Weglaufens nicht. Sie haben (sitzen) zu bleiben.

Weggelaufen ist meine Familie nicht. Sie wusste nur keine Lösung. Wie auch? Mein Mann hatte nach Lösungsmöglichkeiten gesucht und mir eine stolz präsentiert: In Soest war gerade ein neues Altersheim eingeweiht worden. Sieht ganz toll aus. Schön ruhig gelegen am Stadtrand. Da könnten mich seine Verwandten doch schön besuchen. Schließlich wohnen sie nur 15 km entfernt. Meine hätten halt einen etwas längeren Weg.

Da ich keine Alternative vorweisen konnte, habe ich zwangsläufig der Besichtigung zugestimmt. Da stand tatsächlich ein nagelneues Gebäude. Sogar mit einigen Einzelzimmern. Eines sollte ich bekommen. Meine Pflege wäre gesichert. Aber leider käme der Nachtdienst schon abends um 18 Uhr. Bis dahin müsste ich wie alle anderen pflegebedürftigen alten Menschen im Bett liegen. Fernsehen im Zimmer geht leider nicht. Man könnte ja keine Ausnahme machen. Das würde ich sicher verstehen. Sonst kämen alle mit solchen Extrawünschen. Schließlich gäbe es einen Gemeinschaftsraum. Aber wir wollen ja nicht so sein, hieß es, ein eigenes Bildchen oder einen Kalender können wir ausnahmsweise gestatten. Ja, es gäbe eine jüngere Bewohnerin. Sie sei 35 Jahre alt und blind. Alle anderen sind leider schon über 70. - Dieses Szenario sollte meine Zukunft darstellen. Ich war gerade zwanzig.

An diesem Tag bekam ich einen Schreikrampf.

Weil sich anscheinend niemand erklären konnte, warum ich so aufgebracht war und mich kaum noch beruhigen konnte, gab es die nächsten Wochen Beruhigungsmittel. Folglich war ich friedlich, aber müde und Antriebs los. Also bekam ich als Ausgleich dazu noch ein paar Aufputschmittel. Die Fächergröße für die Tabletten reichten kaum aus.

Der Entlasstag rückte bedrohlich immer näher. Wir mussten endlich eine Lösung finden. Irgendwann brachte ein Pfleger ein Behindertenwohnheim im baden-württembergischen Krautheim ins Spiel. Mein damaliger Mann fuhr die 400 Kilometer hin, schaute sich die Einrichtung an und kam begeistert wieder zurück. Eine ganze Stadt für Behinderte, erzählte er. Jede Menge Leute, die so wie du im Rollstuhl sitzen. Da fühlst du dich bestimmt wohl, lautete seine Meinung. Schließlich könne er mich ja am Wochenende besuchen kommen. - Vierhundert Kilometer weg zu ziehen von der Heimat, war unvorstellbar für mich. Doch gab es keine Alternative.

Ab ins Heim

Am 25. Oktober 1976 war es dann soweit. An diesem kalten, sonnigen Herbstmorgen wurde ich in einen Krankenwagen verfrachtet, mein Elektrorollstuhl auf einem Anhänger hinten angehängt und ab ging es in Richtung Süden. Die Fahrtstrecke, unterbrochen durch eine Reifenpanne, erschien mir endlos. Die Straßen wurden immer schmaler und die Gegend immer dünner besiedelt.

Endlich, nach fast acht Stunden Fahrt, kamen wir am Ziel an. Das Pflegepersonal erwartete mich schon. Die Pflegerinnen begrüßten mich freundlich. Allerdings verstand ich den Dialekt kaum. Schnell packten sie mich von der Krankenwagentrage ins Bett und stellten den Koffer daneben. Ein kurzes "Tschüss" vom Krankenwagenfahrer und der Krankenschwester, die den "Transport" begleitet hatte. Weg waren sie. Zurück blieb ich mit meinen Ängsten, Befürchtungen aber auch schwachen Hoffnungen auf das, was mir die Zukunft wohl bringen würde.

Der erste Schock kam gleich am Ankunftstag. Im Krankenhaus wurden wir frischen Querschnittsgelähmten regelrecht darauf gedrillt, regelmäßig die Blase zu entleeren, bzw. entleeren zu lassen, da die Nieren- und Blasenfunktionen nicht beeinträchtigt werden dürfen. (Damals starb noch ein Großteil der Querschnitte nach ein paar Jahren an Infektionen und Nierenversagen.) Ein weiterer Schwachpunkt für Querschnittsgelähmte ist die durch die Lähmung und die Bewegungslosigkeit viel schwächer durchblutete Haut. Regelmäßiges Umlagern im Bett, etwa alle drei Stunden, ist daher unbedingt notwendig. So kann den gefürchteten Dekubiti (Druckgeschwüren) vorgebeugt werden. Das wurde uns immer und immer wieder gepredigt.

Als ich nach dem Abendbrot die Dienst habende Schwester fragte, wann sie in der Nacht käme um mich zu drehen, meinte sie: "Ich kann Sie noch um zehn Uhr drehen. Aber nachts ist hier niemand. Erst um sieben morgen früh kommt wieder jemand."

Für mich bedeutete das, mindestens neun Stunden auf einem Fleck zu liegen, nichts trinken zu können, die Blase nicht zu leeren, überhaupt keine Hilfe herbeiholen zu können, weder wenn es mich frieren würde, noch wenn es mir zu warm würde. Ich wollte nur noch nach Hause. Aber das gab es schon lange nicht mehr.

In den nächsten Wochen lebte ich mich so langsam ein. Kurz nach meinem 21. Lebensjahr nach Krautheim gekommen, war ich die jüngste. Dementsprechend freuten sich gerade auch die jüngeren Praktikantinnen, eine etwa Gleichaltrige pflegen zu können. So gab es immer jemanden, der sich zwischendrin in mein Zimmer schlich, ein paar Handgriffe nebenher erledigte, oder einfach mal quatschte. Ich selbst hatte mir vorgenommen, aus meiner Situation, aus meinem Leben überhaupt, das Beste zu machen. Ich redete mir ein, wie schön es sei, mich nicht ums Einkaufen, Wäsche waschen, Putzen und sonstige lästige Dinge kümmern zu müssen.

Meine Ehe, die ohnehin nicht besonders gut war, zerbrach unterdessen. "Du musst froh sein, als Krüppel überhaupt einen Mann zu haben und dann auch noch einen gesunden", bekam ich etliche Male von meinem Mann zu hören. Er meinte, mit diesem Argument könnte er nach Belieben und in jeder Hinsicht über mich verfügen. Anfang Dezember teilte ich ihm mit, dass ich die Scheidung einreichen würde. Das war dann auch der erste gute Vorsatz für das neue Jahr, den ich im Januar gleich umsetzte. Im April 1977 nach knapp vier Jahren Dauer wurde meine erste Ehe geschieden.

Zwischenzeitlich bekam ich Schmerzensgeld von der zuständigen Haftpflichtversicherung. Ein Teil davon nahm ich und kaufte mir ein Auto, das ich auf meine speziellen Bedürfnisse hin umbauen lies. Endlich konnte ich meinen Traum, den Führerschein zu machen, erfüllen. Mein Fahrlehrer, der noch nie einen behinderten Fahrschüler hatte, sah das als besondere Herausforderung an. Er wurde bezüglich der besonderen Herausforderung enttäuscht, denn nach 21 Fahrstunden und damit schneller als andere, die gleichzeitig mit mir anfingen, besaß ich die Fahrerlaubnis. Keine Ahnung, wer stolzer war, der Fahrlehrer oder ich!

Ich will hier raus!

Es dauerte nicht lange bis ich merkte, dass ich mich zwar nicht mehr ums Kochen usw. kümmern musste. Aber entscheiden, was und wann ich essen wollte, konnte ich auch nicht mehr. Ebenso konnte ich nicht mehr selbst bestimmen, wann ich fortgehen konnte, wann aufstehen, wann zu Bett gehen. Immer musste ich warten, bis jemand Zeit dafür aufbrachte. Viele Dinge waren überhaupt nicht möglich, weil ein Heim nun mal kein Personal für "Extrawürste" zur Verfügung stellen kann. Manchmal erlaubte ich mir etwas Besonderes, wie Begleitung zum Kinogang oder in die Disco. Solcher Luxus musste dann aber von den 156 DM monatlichem Taschengeld bezahlt werden.

Nach wenigen Monaten war mir klar: In dieser Situation, geprägt von Fremdbestimmung und Aufgabe der Eigenverantwortung, wollte ich nicht den Rest des Lebens verbringen. Allerdings sah ich mal wieder keinen Ausweg aus der Misere.

Bei einem vom Heim organisierten Sommerfest lernte ich einen Mann kennen, der wie ich ab dem Halswirbel gelähmt war. Er kam aus einer achtzig Kilometer entfernten Stadt zu diesem Fest. Das ging natürlich nicht allein. Mit offenem Mund hörte ich zu, als er berichtete, er habe als einer der ersten Behinderten in Deutschland rund um die Uhr Zivildienstleistende, die ihm bei allem was er brauchte und wollte halfen.

Zu diesem Zeitpunkt sah ich das erste Mal, dass es möglich war, außerhalb eines Heimes und unabhängig von der Familie zu leben. Bis dahin kannte ich Zivis nur vom Krankenhaus und vom Heim. Allerdings konnte ich mir noch nicht vorstellen, als Frau ausschließlich von Zivis in einer eigenen Wohnung versorgt zu werden. Und woher die Mittel nehmen? Der Sommerfestgast arbeitete in einem hochqualifizierten Beruf und verdiente nicht schlecht. Ich hingegen bekam nur eine kleine Rente.

So vergingen einige Monate. Zwischenzeitlich hatte ich über CB-Funk einen Mann kennen gelernt und mich verliebt. Er war durch eine Polio-Erkrankung im Kleinkindalter behindert, berufstätig und lebte ein paar Orte weiter bei seinen Eltern. Nun überlegten wir gemeinsam, wie mein Auszug aus dem Heim und das Leben in einer eigenen Wohnung organisiert werden könnte. Da mein Mann schon damals in einem Lohnbüro arbeitete, konnte er leicht ausrechnen, dass Lohnkosten für Helferinnen privat nicht finanzierbar waren. Da ich bei meinem Autounfall nicht angeschnallt war, hatte ich ein Drittel Mitschuld am Unfall. Die Anschnallpflicht gab es gerade einen Monat und einen Tag, als mein Unfall passierte. Also bekam ich nur zwei Drittel der durch den Unfall bedingten Kosten von der Haftpflichtversicherung erstattet.

Immer auf der Suche nach Finanzierungs- aber auch rein praktischen Möglichkeiten fuhr ich nach Lippstadt, wo der damals für mich zuständige überörtliche Träger der Sozialhilfe ansässig war. Dieser finanzierte die Heimkosten, die die Haftpflichtversicherung und meine Rente nicht deckten. Recht naiv fragte ich den Sachbearbeiter, welche Möglichkeiten ich hätte, aus dem Heim auszuziehen. Nie werde ich vergessen, was ich empfunden habe, als er mich nur anbrüllte. Ich solle gefälligst froh sein, dass für mich gesorgt würde. Ich hätte doch ein Zimmer, ein Bett und einen Fernseher. Außerdem würde ich zu essen bekommen, würde angezogen und frieren müsste ich auch nicht.

Mehr als zaghaft und vollkommen eingeschüchtert, versuchte ich ihm klar zu machen, was es bedeutet, keine Kontrolle mehr über sein Leben zu haben und mit ständiger Fremdbestimmung zu leben. Auch über die finanziellen Mittel kann man im Heim, bis auf ein kleines Taschengeld (damals 156 DM monatlich), nicht mehr selbst verfügen. Von diesem Taschengeld müssen sämtliche persönlichen Bedürfnisse, vom Frisörbesuch, über Körperpflegemittel, den Telefonkosten, Bücher bis zum Getränk außerhalb der festen Essenszeiten und vieles andere mehr finanziert werden. Jede neue Unterhose, jeder Schlafanzug, jedes Kleidungsstück überhaupt, muss man als Heimbewohner beim Sozialamt beantragen und den Bedarf nachweisen. Von den bewilligten Summen kann dann wieder nur die billigste "Qualität" gekauft werden, die nach kurzer Zeit gerade mal für den Kleidersack taugt.

Doch mein zur Auskunft verpflichteter Sachbearbeiter schrie mich nur weiter an, er habe es nicht so gut wie ich, er müsse arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Außerdem habe er keine 156 DM Taschengeld zur Verfügung. Ich solle also gefälligst zurück nach Krautheim fahren, zufrieden sein mit dem was ich habe und ja nicht mehr wiederkommen.

Erste Hoffnungsschimmer

Ein paar Wochen lang sanken meine Hoffnungen und meine Stimmung auf "Null". Dann begann ein sehr sympathischer Zivi seinen Dienst im Heim. Mein Freund und ich erzählten ihm von dem Problem, nicht zu wissen, wie wir meinen Auszug aus dem Heim organisieren könnten. Er gab uns daraufhin die Telefonnummer eines Studienrates, der Kriegsdienstverweigerern in den damals noch sehr schwierigen Anerkennungsverfahren zur Seite stand. Dieser erklärte sich sofort bereit, uns zu unterstützen. Zum ersten Mal gab es konkrete Ansatzpunkte und einen Hoffungsschimmer, doch noch aus dem Heim ausziehen zu können. Wir fanden eine Dienststelle, die bereit war, ISB-Plätze (ISB = Individuelle Schwerstbehindertenbetreuung) für mich einzurichten und Zivis für mich einberufen zu lassen. Ich sollte nur selbst schauen, wo ich diese finden würde. Doch dabei wollte uns ja unser neuer Bekannter helfen.

Noch schwieriger als erwartet gestaltete sich die Suche nach einer geeigneten Wohnung, obwohl wir, was den Ort anbelangte, relativ flexibel waren. Die Wohnung sollte nur nicht mehr als 30 km von der Arbeitsstätte meines (noch) Freundes entfernt sein und eben für uns beide geeignet. Ein ganzes Jahr lang suchten wir erfolglos.

In der Zwischenzeit wurde ich wegen der nicht vorhandenen Nachtpflege im Heim sehr krank. Meine Nieren waren stark geschädigt. Die Folge war ab Februar 1980 ein zweimonatiger Krankenhausaufenthalt und eine schwere Operation. Als es mir dann richtig schlecht ging, machte mir mein damaliger Freund einen Heiratsantrag - den ich annahm - und meinte ergänzend: "Und jetzt ist Schluss mit der Sucherei. Du musst raus aus dem Heim. Jetzt wird gebaut." Das erste Gespräch mit dem Architekten fand noch im Krankenhaus statt.

Umzug in die Freiheit

Am 26. September 1981 war es dann endlich so weit: Wir zogen an einem strahlenden Samstagmorgen in unser neues, selbstverständlich barrierefreies Haus in Hollenbach ein. Zwei Zivis waren gefunden und pünktlich einberufen worden. Der erste fing sogar ein paar Tage früher mit seinem Dienst an und half beim Umzug. Kaum zu glauben, was sich in den vier Jahren, elf Monaten und 29 Tagen meines Heimaufenthaltes in einem einzigen Zimmer so alles angesammelt hatte.

Nach ein paar Wochen des Einlebens heirateten wir am 18. Dezember 1981. Der Standesbeamte, gleichzeitig damals und noch heute nach zwanzig Jahren auch der Bürgermeister, kam in einem enormen Schneesturm von Mulfingen nach Hollenbach gefahren. Es war seine erste Trauung in einem Privathaus. Doch ins Standesamt hätten wir nicht kommen können. Unzählige Stufen hinderten daran.

Die Finanzierung der Kosten für die Zivis stellte sich letztendlich als das geringste Problem dar. Aus rein praktischen Gründen, das heißt wegen der jeweiligen Entfernung zur Dienststelle, wechselte ich diese zweimal. Doch immer hatten wir Glück. Die Zivis wurden uns zu sehr geringen Kosten zur Verfügung gestellt. Zwei Drittel musste ohnehin die Haftpflichtversicherung übernehmen. Das verbliebene Drittel bezahlten wir problemlos aus eigenem Einkommen.

So vergingen neun Jahre, in denen ich mich im Dorf einlebte, meinen Mann bei seiner ehrenamtlichen Tätigkeit im Vorstand eines Fußballvereines unterstütze und ein "ganz normales" Leben führte. Die Zivis wechselten natürlich bei Beendigung ihrer Dienstzeit. Mit einigen verbindet uns noch heute eine Freundschaft, andere wollen wir niemals (vermutlich auch sie uns nicht) wiedersehen, weil es einfach nicht gepasst hat. Das waren diejenigen, die den Zivildienst als Zwang ansahen und uns das auch täglich zu spüren gaben. Mit Höhen und Tiefen war die Pflege gesichert und es gab keinen Anlass und vermeintlich auch keine Möglichkeit, diese Art der Versorgung zu ändern.

Die Katastrophe ist da

Dann kam das Jahr 1990. Es blieb meinem Mann und mir als das schlimmste unseres Lebens in Erinnerung. Schon im Frühjahr begann sich die Katastrophe abzuzeichnen. Zwei unserer damals drei Zivis sahen ihrem Dienstende entgegen. Schon in der Vergangenheit war es mal mehr, mal weniger schwierig, geeignete Nachfolger zu finden. Doch nun kündigte der Gesetzgeber eine Wehrdienstzeit- und damit eine zwangsläufig verbundene Zivildienstzeitverkürzung an. Kein Zivi ließ sich mehr einberufen, denn jeder hoffte, durch eine spätere Einberufung in den Genuss der kürzeren Dienstzeit zu kommen. Im späten Frühjahr und im Frühsommer verließen uns dann zwei Zivis. Trotz verstärkter Suche fanden wir keine Nachfolger. Unser letzter verbliebener Zivi versprach, uns nicht im Stich zu lassen und zu bleiben, bis wir wieder jemanden gefunden hätten.

Aber es kam noch schlimmer. Die Dienstzeitverkürzung trat in Kraft. Sie galt jedoch nicht nur für die künftigen Zivis, sondern auch für diejenigen, die schon Dienst taten. Unser letzter Zivi hätte normalerweise bis zum Januar Dienst gehabt. Seine Dienststelle teilte uns am 1. August mit, dass er wegen der Verkürzung, der Überstunden und des angesparten Urlaubs am 7. August nach Hause gehen könnte. Unser Entsetzen war unbeschreiblich.

uerst sagte unser letzter Zivi zu - diese Möglichkeit gab der Gesetzgeber - gegen ein etwas höheres Entgelt länger zu bleiben. Dann aber setzten ihn seine Eltern unter Druck, doch am 7. aufzuhören, denn so konnte er schon im September mit seiner Ausbildung zum Koch anfangen. Für ihn bedeutete das ein gewonnenes Jahr.

In unserer Verzweiflung wandten wir uns an die Presse und an die Bundestagsabgeordneten unseres Wahlkreises. Es wurden Radiointerviews gemacht, und ein großer Artikel erschien in der Zeitung. Außer neugierigen Fragen der Nachbarschaft gab es jedoch keine Resonanz.

Am 7. August, dem letzten Diensttag unseres Zivis trafen sich der Dienststellenleiter, die Leiter zweier weiterer ambulanter Dienste, ein Zivi eines Dienstes und ein Bundestagsabgeordneter zu einer Krisensitzung in unserem Wohnzimmer. "Wir können schließlich keine Zivis backen. Wir können versuchen, einen aufzutreiben und damit 37 Stunden in der Woche abdecken. Ansonsten muss halt die Nachbarschaft ran", war eine der "konstruktiven" Lösungsvorschläge. Dem Zivi hatten sie die Rolle zugedacht, uns einzuschüchtern und vorzuhalten, ein überzogenes Anspruchsdenken an den Tag zu legen.

"Wissen Sie Herr Bartz, ich kenne Sie jetzt schon zwei Stunden. Sie haben doch kräftige Oberarme. Warum heben Sie Ihre Frau nicht ins Bett und ziehen sie an und aus?" meinte der eine Dienststellenleiter. Mein Mann kann mit Hilfe von Stützapparaten, Unterarmgehstützen und viel Anstrengung ein paar wenige Meter laufen. Ansonsten benutzt er einen Rollstuhl.

Voller Verzweiflung, aber gleichzeitig perplex über soviel "Sachkenntnis" rutschte mir der Satz heraus: "Natürlich geht das: Rechte Hand ´ne Krücke, linke Hand ´ne Krücke, und mit den anderen beiden Armen hebt er mich ins Bett." Von dem Moment an hatten wir nur noch Gegner. Ich wurde als polemisch, nicht kompromissfähig und destruktiv beschimpft. So könne man mir nicht helfen. Ich sei ja gar nicht zugänglich. Nun hatte ich in meiner absoluten Verzweiflung auch noch ein Alibi des Eigenverschuldens für die Misere und der Unmöglichkeit einer Lösung geliefert. Mit uns könne man ja nicht vernünftig reden. "Dann sehen Sie mal zu, wie es weitergeht. Wir wissen keine Lösung." Und weg waren sie.

Keiner der sogenannten Profis hatte verstanden, dass wir in den vergangenen Jahren kein überversorgtes Luxusleben geführt hatten, sondern nicht mehr und nicht weniger als den vorhandenen Bedarf deckten.

Der Kampf beginnt

An diesem späten Nachmittag blieben mein Mann, unser letzter Zivi und ich fassungslos zurück. Die Katastrophe war da und der Zivi nach zwei Stunden, nachdem er mich noch als letzte Tat ins Bett gepackt hatte, ebenfalls verschwunden. Wir sahen ihm sein schlechtes Gewissen an, denn er wusste, in welcher Situation er uns zurück lies. Der Einfluss seiner Eltern war halt verständlicherweise stärker und so ging er, ohne sich je wieder zu melden.

Wenn meine Schwägerinnen nicht sofort eingesprungen wären, hätte es das Ende bedeutet. Dass ich nie mehr ins Heim gehen würde war (und ist noch immer) sicher. Die Schwägerinnen konnten allerdings nur sehr sporadisch und unter größten Schwierigkeiten helfen, da die eine wegen ihrer Landwirtschaft ausgelastet, die andere als Exportmanagerin wenig zu Hause war. Ich musste oft im Bett bleiben, oder wusste nicht, wie und wann ich abends wieder ins Bett käme. Ich konnte nicht mehr genügend trinken, denn was im Körper ist, muss auch mal wieder raus. Doch wann und wie, wenn niemand zum Helfen da ist?

Eine Woche sprang mein Vater ein. Die Körperpflege konnte er nicht leisten, aber etwas im Haushalt helfen. Eine weitere Woche kam meine Schwägerin. Sie half wo es ging, hatte aber keine Erfahrung in der Körperpflege, dafür ihren kleinen Sohn, der sie brauchte, dabei.

Durch einen weiteren Zeitungsbericht fanden wir nach einigen Wochen wieder einen Zivi. Das Wahlkreisbüro des ehemaligen Bundestagspräsidenten, Dr. Philipp Jenninger, unterstützte uns, sodass der Zivi zum 15. Oktober einberufen werden konnte. Jede zweite Woche war wieder abgesichert! Die Johanniter-Unfall-Hilfe hatte ebenfalls von unserer Situation gehört. Sie stellte uns für die Freiwoche unseres Zivis einen weiteren für drei Stunden täglich zur Verfügung. Da dieser sehr flink war, konnten wir sogar den Haushalt notdürftig organisieren. Doch ich musste nach wie vor oft im Bett bleiben. Unser Dorf konnte ich gut fünf Monate lang nicht verlassen. Lebensqualität war Luxus. Es ging nur noch um das nackte Überleben. Mein Mann erlitt an dem für uns so schicksalhaften 7. August einen Zusammenbruch, unter dessen körperlichen Folgen er bis heute leidet.

Der dornige Weg zum Arbeitgebermodell

Im Januar 1991 hörten wir zum ersten Mal von der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Ich bekam die Telefonnummer des Verbundes behinderter ArbeitgeberInnen, VbA, in München. Hannes Messerschmitt, selbst schwerstbehindert, lebte schon damals mit persönlicher Assistenz nach dem Arbeitgebermodell. Erstmals erlebte ich, mich nicht mehr dafür rechtfertigen zu müssen, bei meinem Mann in unserem Haus bleiben zu wollen. Erstmals verstand jemand, was ich wollte. Erstmals war es normal, was ich wollte und wurde nicht als überzogenes Anspruchsdenken abgetan. Erstmals bot jemand Lösungsmöglichkeiten. Es war wie ein Wunder!

Zuvor bekamen wir monatelang nur zu hören, es wäre mit einer so schweren Behinderung unmöglich, mit seinem ebenfalls behinderten Mann im eigenen Haus zu leben. Kein ambulanter Dienst könnte und wollte so viel Hilfe zur Verfügung stellen. Und ich wollte nicht mehr ins Heim!

In den kommenden Wochen hätte sich eine Telefonstandleitung nach München sicher rentiert, denn ich stand in ständiger Verbindung mit Hannes Messerschmitt. Dabei hat er mich nie bevormundet oder sich aufgedrängt, sondern nur die mögliche Vorgehensweise auf dem Weg zum Arbeitgebermodell aufgezeigt. Denn eines wussten wir sofort: Das Arbeitgebermodell ist genau das, was wir schon seit Jahren suchen. Nur das "Wie", sprich das Umsetzen war uns rätselhaft.

Die Finanzierung sollte sich als größtes Problem darstellen. Konnten wir das Drittel Eigenanteil an den Zivikosten leicht selbst finanzieren (siehe oben), überstieg das Drittel der Kosten für künftige, festeingestellte Kräfte unsere finanziellen Möglichkeiten. Folglich stellten wir am 29. April 1991 den Antrag auf Kostenübernahme nach § 69a und b BSHG. Die errechnete Summe der voraussichtlichen Kosten lag bei ca. 10.000 DM monatlich.

Da auch zu diesem Zeitpunkt die Hilfeleistungen nur notdürftig gesichert waren und durch Krankheit der Zivis immer wieder zusätzliche Versorgungslücken entstanden, machten wir unseren Antrag dringlich. So schnell wie möglich wollten wir mit dem Arbeitgebermodell beginnen und damit endlich weg von der Betreuung hin zur Assistenz.

Die Antragsformulare erhielten wir relativ schnell. Dem Begleitschreiben der Behörde war deren Verwunderung zu entnehmen, noch keine Akte von uns zu haben, bzw. lediglich über Zeitungsartikel über uns zu verfügen. Heute wissen wir, dass die Behörde bei Bekanntwerden einer Notsituation von sich aus tätig werden muss. Damals waren wir nur verblüfft. Schließlich hätte die Behörde froh sein können, dass wir trotz unserer Behinderungen nie Hilfe in Anspruch nehmen mussten oder besser wollten. - Zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem wir uns rechtskundig gemacht hatten, rechneten wir aus, dass uns in den vorhergegangenen Jahren an die 200.000 DM pauschales Pflegegeld zugestanden hätte!

Der sehnsüchtig erwartete Bescheid kam nach etwa drei Monaten. Er war teilweise ablehnend, denn die Behörde bewilligte nur einen Teil der beantragten Kostenübernahme. Bis zum Ende Juni betrug die bewilligte Summe 5600 DM, ab dem 1. Juli 5900 DM. Das bedeutete eine Deckungslücke der zu erwartenden Kosten von rund 4000 DM monatlich! Diese teilweise Verweigerung war folglich gleichbedeutend mit einer Ablehnung für uns.

Zur Formulierung des Widerspruchs nahmen wir uns einen Rechtsanwalt. Wir hatten Angst, aus lauter Unkenntnis Formfehler zu begehen.

Glücklicherweise fanden wir wieder einen Zivi, der im Sommer 1991 seinen Dienst antrat. Nun verfügten wir bis Ende September wieder über zwei Zivis. Zwischenzeitlich waren wir nicht untätig, sondern gründeten einen Betrieb im eigenen Haushalt. Die verwaltungstechnischen Voraussetzungen für das Arbeitgebermodell waren also gegeben.

Als der erste der beiden Zivis seinen Dienst beendete, stellten wir unseren ersten festen Assistenten ein. Kurz darauf folgte der zweite, ein rumänischer Asylbewerber, von Beruf Arzt. Den Zivi bekamen wir nach wie vor sehr kostengünstig von unserer Dienststelle zur Verfügung, sodass wir mit diesem Team unter dem Kostenlimit des Sozialhilfeträgers blieben. Die größte existenzielle Bedrohung war vorübergehend gemildert.

Trennung von Amts wegen ?

Nach umfangreichem Schriftverkehr erhielten wir am 3.2.1992 endlich den Widerspruchsbescheid. Zuvor beurteilte wie üblich ein "sozialerfahrener Kreis", der vom Widerspruchsausschuss damit beauftragt wird, unsere Situation bzw. unseren Antrag. Diese "sozialerfahrenen Kreise" befanden, dass es vollkommen ausgeschlossen sei, mit einer solch schweren Behinderung, zusammen mit einem ebenfalls behinderten Ehemann, in einem eigenen Haus zu wohnen. Hier käme auf jeden Fall nur ein Heimaufenthalt infrage. Die vorausgegangenen neun Jahre, die wir schon so lebten und die Tatsache, dass die Versorgung nicht durch unser Verschulden zusammenbrach, ignorierten diese "Profis" vollkommen.

Zu einem späteren Zeitpunkt erkundigte ich mich, wer in einem solchen "sozialerfahrenen Kreis" sitzt. Die Antwort machte vieles klar. Es sind Betreiber von ambulanten Diensten, von Heimen und Vertreter von Kostenträgern. Es geht eben nichts über neutrale Sachverständige!

Im Widerspruchsbescheid wurden die Leistungen weiterhin limitiert. Ein Team, bestehend aus lauter festeingestellten AssistentInnen, hätten wir damit nicht finanzieren können.

Wörtliche Auszüge zur Begründung des Widerspruchsbescheides:

"... Der Sozialhilfeträger muß daher berechtigt sein, die Kostenfolgen einzubeziehen, wollten alle oder zumindest eine Vielzahl von Pflegebedürftigen trotz notwendiger "Rund-um-die-Uhr-Betreuung" auf häusliche Wartung und Pflege bestehen. Der daraus folgende personelle Bedarf und die dafür notwendigen Kosten wären von der Allgemeinheit wohl kaum aufzubringen. Andere Ehepaare, oft langjährig verheiratet, treffen in der Regel von sich aus die Entscheidung, daß ein Ehepartner sich stationär versorgen läßt, wenn die Betreuung im häuslichen Bereich durch Angehörige oder durch stundenweisen Einsatz von Pflegekräften der Sozialstationen oder im Wege der Nachbarschaftshilfe nicht mehr gewährleistet werden kann, d.h. die Pflege einen solchen Umfang angenommen hat, daß der personelle Einsatz und die hierfür entstehenden Kosten nicht mehr tragbar sind.
Für Frau Bartz könnte diese ständig notwendige Betreuung bei Tag und Nacht stationär im ...gewährleistet werden, da es sich hierbei um eine Spezialeinrichtung für Schwerstbehinderte handelt. Dort sind auch ihr vergleichbar körperbehinderte Rollstuhlfahrer untergebracht, so daß die Einrichtung für sie nach unserer Auffassung auch geeignet ist. (...) Wir anerkennen unter Abwägung aller Umstände dieses Einzelfalles einen Zuschlag zu den Heimkosten in Höhe von 30 % und sind insoweit bereit, bis zu dieser Grenze die Kosten für die häusliche Wartung und Pflege noch als angemessen anzusehen.
Bei dieser Entscheidung, einen Zuschlag von 30 % zu gewähren, haben wir insbesondere berücksichtigt, daß nach Artikel 6 Grundgesetz der Schutz der Ehe und Familie zu beachten ist. Zwar ergibt sich hieraus kein eigener Leistungsanspruch, jedoch sahen wir es als berechtigt an, den Zuschlag von in der Regel 15 bis 20 % auf 30 % zu erhöhen....."

Nun hatten wir schriftlich, was nach Ansicht eines Sozialhilfeträgers unsere Ehe in Mark und Pfennig wert ist: nämlich zehn bis fünfzehn Prozent der Kosten für ein Behindertenwohnheim. - Viel schlimmer jedoch war die faktische Aufforderung der Behörde, mich von meinem Mann zu trennen und wieder zurück ins Heim zu ziehen. Alleine die Tatsache, dass dort andere Menschen mit gleichen Behinderungen lebten, reichte nach deren Meinung aus, um das Heim als geeignet anzusehen. Nie bin ich gefragt worden, warum ich ausgezogen bin, oder was das Leben in Freiheit, mit meinem Mann in unserem eigenen Haus für mich bedeutet. Der Tag an dem dieser Bescheid kam wird uns, wie einige andere in den vergangenen Monaten für immer unvergessen bleiben. Wir konnten nicht fassen, "zur Trennung von Amts wegen" aufgefordert worden zu sein. - Diese Passage des Widerspruchs leugnete beim späteren Gerichtsprozess die Sachbearbeiterin übrigens vehement.

Das Klageverfahren

Die Hoffnung, ohne Klageverfahren die Kostenübernahme bewilligt zu bekommen, wurde also zerstört. Was wir befürchteten, war nun Realität: Wir mussten Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart einlegen. Einen anderen Weg gab es nicht. Zur damaligen Zeit waren die Verwaltungsgerichte durch unzählige Asylverfahren hoffnungslos überfordert. Wir mussten also damit rechnen, Jahre lang auf einen Verhandlungstermin zu warten. Damit war die ständige Gefahr verbunden, keinen Zivi mehr zu finden, was die Kosten sofort gesteigert und uns zahlungsunfähig gemacht hätte.

Diese permanenten Ängste waren der reinste Psychoterror. Kam mal wieder ein Brief mit dem Stempel des Landratsamtes, setzten bei mir sofort extreme Bauchkrämpfe ein. Besonders in den ersten Monaten und Jahren lies der Stil der Schreiben auch nichts anderes zu, als sich als Bittsteller und Almosenempfänger zu fühlen, die den Staat ungebührlich ausnehmen wollen. Diese Umgangsweise hat sich mittlerweile geändert. Doch damals war sie so belastend, dass sie unsere Gesundheit nachhaltig beeinflusste.

Nach mehr als zwei Jahren stand endlich der Verhandlungstermin fest: am 24. Juni 1994 war die mündliche Verhandlung angesetzt. So sehr wir den Termin herbeisehnten, so sehr fürchteten wir ihn. An diesem Tag würden andere Menschen, die uns nie zuvor gesehen hatten, die uns nicht kannten über unser ganzes weiteres Leben entscheiden.

Der Sieg

Wir hatten unendliches Glück. Das Gericht war "mit voller Besetzung", also mit einem Vorsitzenden Richter, zwei weiteren hauptamtlichen RichterInnen sowie zwei ehrenamtlichen beisitzenden Richtern anwesend. Seitens der Behörde kamen die Sachbearbeiterin, der Leiter des Sozialamtes und ein Justiziar. Mein Mann und ein Assistent begleiteten mich. Auf der Bank der Klägerin saß ich allein mit meinem Anwalt. Das Glück bestand unter anderem aus einer Richterin, die sich sehr sorgfältig in unsere inzwischen tausend Seiten starke Akte eingelesen hatte und dem Vorsitzenden Richter jede Frage sofort und präzise beantwortete, wenn entsprechender Bedarf bestand. Der Vorsitzende Richter seinerseits konnte sich anscheinend sehr gut in die Situation versetzten, wie unmenschlich es ist, ein Ehepaar zu trennen und eine Person aus dem sozialen Umfeld herauszureißen; das Ganze ausschließlich aus Kostengründen. Er betonte mehrfach, selbst ein noch so gut geführtes Heim, könne kein Leben in der eigenen Familie und in den eigenen vier Wänden ersetzen. Es müsse alles getan werden, damit der Schutz der Familie gewahrt bliebe. Da er uns (er hatte meinen Mann zwischendurch auch befragt) in der Verhandlung als verantwortungsbewusst kennen gelernt habe, wollte er auch kein Limit für die Kostenübernahme setzen. Er sei sich sicher, dass wir keine künstlich überhöhten Kosten geltend machen würden. Auf die geradezu entsetzte Nachfrage seitens der Behörde bestätigte er nochmals, es seien alle real anfallenden Kosten zu übernehmen.

Leider weigerte er sich, ein Urteil zu sprechen und damit einen Präzendensfall zu schaffen. Beim Vergleich mussten wir jedoch lediglich anerkennen, dass die Haftpflichtversicherung meines Autos nicht bei der Einkommensbereinigung berücksichtigt wird.

So richtig freuen konnten wir uns an diesem Tag noch nicht. Unter dem Einfluss der ungeheuren Belastung der vergangenen vier Jahre stehend, dauerte es einige Tage, bis uns klar war: Wir haben es geschafft. Die Kostenübernahme ist gesichert!

Pflegeversicherung als Bedrohung

Eigentlich könnte der dornige Weg zum langersehnten und lang angestrebten Arbeitgebermodell hier enden. Doch unsere Erleichterung sollte nur wenige Monate andauern, denn dann kam die Pflegeversicherung. An ihr drohte wieder einmal die ganze Versorgung - oder jetzt besser und korrekter mit Assistenz bezeichnet - zu scheitern.

Am 17. Februar 1995 fand die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) statt. Dessen Mitarbeiter - eine Fachpflegekraft, die sich unwidersprochen mit Herr Dr. anreden ließ - kam mit zweistündiger Verspätung. Seiner Mitarbeiterin hatte ich vormittags, als sie den "Besuch" ankündigte gesagt, dass ich noch einen Termin hätte und zu einem bestimmten Zeitpunkt fortfahren müsste.

Der MDK-Mitarbeiter ging den üblichen Fragebogen mit mir durch. Als ich glaubte, wir wären fertig mit der Ermittlung des Pflegebedarfs und ich endlich meinen Termin wahrnehmen könnte, meinte er: "Lassen Sie sich mal aufs Bett legen und ausziehen. Ich will Sie untersuchen." Mein Protest nutze nichts. Also rief ich meine Assistentin. Diese musste vor seinen Augen das Bett richten und mich auskleiden. Die "Fachpflegekraft" prüfte mit einem Hämmerchen meine Reflexe. Vielleicht meinte er, ich hätte die Querschnittslähmung neunzehn Jahre lang nur simuliert.

Was anschließend geschah, ist mir bis heute - mehr als sechs Jahre danach - noch immer als unendlich entwürdigend in Erinnerung geblieben: Meine Assistentin musste mich auf die Seite drehen. Die "Fachpflegekraft" zog eine Taschenlampe hervor, mir die Pobacken auseinander und leuchtete dort herum. So wollte er wohl den Pflegebedarf ermitteln, denn nichts anderes war sein Auftrag. Ich kam mir an diesem Tag so gedemütigt und wehrlos ausgeliefert vor.

Ich bin häufig gefragt worden, warum ich mich gegen diese Behandlung nicht gewehrt habe. Der Grund lag in der Angst, dass er mir mangelnde Mitwirkungspflicht unterstellen und mich nur in Pflegestufe II einstufen würde. Das hätte unter Umständen wieder ein Klageverfahren zur Folge gehabt. Ich wusste ja, dass ich Anspruch auf Pflegestufe III hatte. Außerdem fürchtete ich, das Sozialamt würde bei einer falschen Einstufung plötzlich anfangen, den Umfang meines Hilfebedarfs anzuzweifeln und es liefe wieder auf ein Verfahren hinaus.

Zusätzliche Gefahr durch die Pflegeversicherung bestand darin, dass viele Sozialhilfeträger auf die vorrangige Inanspruchnahme der Sachleistungen der Pflegeversicherung verwiesen. Behinderte ArbeitgeberInnen können jedoch nur die niedrigeren Geldleistungen beziehen. Erst 1996 schützte der Gesetzgeber die Arbeitgebermodelle (§ 69c) im Bundessozialhilfegesetz. Meinem eigenen Sozialhilfeträger gegenüber konnte ich glücklicherweise verdeutlichen, dass meine Versorgung wieder zusammenbrechen würde, da ich keinen ambulanten Dienst in das System einbinden konnte. Würde es mir wider Erwarten gelingen, die gesamte Hilfe über einen Dienst zu sichern, stiegen die Kosten auf über dreißigtausend DM. Ein Argument, dass die Behörde überzeugte, denn der Verweis auf eine Einrichtung kam laut Verwaltungsgericht ja nicht in Betracht.

Leben in Selbstbestimmung - Das Ziel ist erreicht

Seither sind über sechs Jahre vergangen. Ab und zu wechseln Assistentinnen, wenn sie heiraten, eine Ausbildung beginnen oder ähnliches. Insgesamt ist jedoch eine große Kontinuität vorhanden. Eine meiner Assistentinnen arbeitet seit über vier Jahren bei mir, die andere seit über zwei Jahren, obwohl sie einen Anfahrtsweg von mehr als 70 Kilometern hat.

Nachdem ich außer den Servicehäusern oder einer Assistenzgenossenschaft alle Möglichkeiten der Versorgung kenne, bleibt als Bilanz nur festzustellen, dass das Arbeitgebermodell die für mich geeignetste Alternative darstellt. Der jahrelange, damals sehr belastende und teilweise sehr entwürdigende Kampf hat sich auf jeden Fall gelohnt. Ich führe zusammen mit meinem Mann ein selbstbestimmtes Leben, das anders nicht möglich wäre.

Der Kontakt zur Selbstbestimmt-Leben-Bewegung hat sich in dieser Zeit immer mehr verstärkt. Durch die eigene Betroffenheit musste ich mich zwangsläufig kundig machen. Das dabei erworbene Wissen konnte ich in den vergangenen Jahren an viele Hundert andere Betroffene weitergeben. Als Plattform dazu dient das Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen, ForseA e.V., als dessen Vorsitzende ich seit seiner Gründung fungiere.

Der von mir verfasste "Ratgeber für behinderte ArbeitgeberInnen und solche, die es werden wollen", dient nicht nur behinderten Menschen und ihren Angehörigen, sondern auch anderen Beratungsstellen, sogar Rechtsanwälten, Richtern und Sozialhilfeträgern zur Information. Außerdem liegt er in vielen Universitätsbibliotheken aus und wurde in etlichen Diplomarbeiten zitiert.

Letztendlich ist es uns gelungen, an den Jahren ungeheurer Probleme, durchlebter und durchlittener Katastrophen nicht zu zerbrechen und nicht aufzugeben. Im Gegenteil sind wir nicht zuletzt durch die Solidarität anderer Menschen mit Behinderungen, sowie der Unterstützung durch einen ausgezeichneten Rechtsanwalt stärker und sehr sachkundig geworden, sodass wir nun unsererseits viele andere behinderte Menschen bei ihrem Kampf um ein selbstbestimmtes Leben unterstützen können.

Elke Bartz
Hollenbach im November 2001

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