von Ottmar Miles-Paul
In der Behindertenszene muss man schon lange suchen, um eine Assistentin
zu finden, die zehn Jahre für die gleiche Person arbeitet. Doch
am Rande einer Sitzung in Berlin habe ich sie gefunden. Am 1. Juli 2001
waren es genau zehn Jahre, seit dem Peter Dietrich´s Assistentin
aus Marburg bei ihm arbeitet. Und wenn ich die beiden so sehe, sieht
es ganz so aus, als ob sie noch manchen Rekord brechen könnten.
So planten die beiden zum Zeitpunkt unseres Zusammentreffens mit einer
weiteren Assistentin gerade eine vier wöchige Reise nach Sri Lanka,
wo Peter Dietrich schon mehrfach Urlaub mit der Unterstützung seiner
Assistentin gemacht hat. Das Assistenzverhältnis der beiden hat
sich also nicht nur im bundesdeutschen Alltag bewährt, sondern
schon so manche Reise des reiselustigen Peter Dietrich überlebt.
Florida, Spanien, New York, Mexiko, Italien, Thailand und Süd Afrika
sind nur einige weitere Stationen, die die beiden schon bereisten und
die den Assistentinnenjob sicherlich bereichert haben. Die Reise nach
Berlin zum Abstimmungsgespräch für ein Bundesgleichstellungsgesetz
für Behinderte mit dem Bundesbehindertenbeauftragten war da nur
ein kleiner Ausflug für den bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe
in Marburg arbeitenden rollstuhlbenutzenden, blinden Juristen Peter
Dietrich und seine Assistentin.
Dass dieses Assistenzmodell so gut funktioniert, liegt aber keineswegs
nur an der guten Chemie und der Reiselust der beiden, sondern vor allem
auch an der fortschrittlichen Assistenzorganisation des Vereins zur
Förderung der Integration Behinderter - fib e.V. - in Marburg,
die es Peter Dietrich ermöglicht, seine AssistentInnen selbst auszusuchen
und ein geregeltes sozialversicherungstechnisch abgesichertes Arbeitsverhältnis
garantiert. "Mit zunehmendem Alter funktioniert für mich die Assistenzorganisation
mit ständig wechselnden Zivildienstleistenden nicht mehr," so Peter
Dietrich. "So lange es keine Dschungeltour durch Sri Lanka ist oder
ich Peter nicht zum Sonnenaufgang auf den Marburger Schlossberg schieben
muss, bin ich mit meiner Arbeit bei Peter sehr zufrieden und glaube,
dass wir es noch eine Weile miteinander aushalten werden," so die Assistentin.
Das war nicht immer so
Die Absicherung der Assistenz war für Peter Dietrich aber nicht
immer so stabil und so selbstverständlich geregelt wie heute. Peter
Dietrich musste vielmehr eine ganze Reihe von Hürden überwinden,
um heute ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Nachdem er bei seiner Großmutter im nordhessischen Gensungen,
dem heutigen Felsberg, in der Nähe von Kassel aufgewachsen ist,
musste er ab dem zweiten Schuljahr aufgrund des Drängens der Lehrer
und gegen den Willen der Großmutter die Blindenschule in Friedberg
besuchen. Bis zu seinem 14. Lebensjahr besuchte Peter diese Internatsschule.
Dann wurde er in Folge einer Krankheit querschnittgelähmt. "Damit
war meine schulische Karriere erst einmal beendet, denn die Blindenschule
war damals in einem alten Gebäude untergebracht und in keinster
Weise rollstuhlgerecht. Zudem gab es keinerlei Rehabilitation für
mich, so dass klar war, dass so jemand wie ich in der Schule nichts
zu suchen hat," fasst Peter Dietrich die damalige Situation zusammen.
Peter wurde also kurzerhand aus der Schule entlassen und kam wieder
zurück nach Hause zur Oma, wo er im 1. Stock ohne Rollstuhl lebte.
So saß Peter zu Hause herum und konnte die Wohnung nur äußerst
selten verlassen.
Leben im Heim
Trotz erheblicher Bemühungen der Oma, eine Klinik für Peter
zu finden, dauerte es über zwei Jahre bis sie auf ein Hirnverletztenheim
in Bad Homburg mit einer Station für gelähmte Kriegsbeschädigte
stieß. Hier sollte Peter die nächsten fünf Jahre seines
Lebens verbringen. Er konnte dort in den Geschichten der Kriegsveteranen
miterleben, "...wie diese den Krieg immer wieder auf´s Neue gewannen."
"Obwohl die medizinische Behandlung dort sehr schlecht war und der
Glaube in meine Gesundung lediglich durch zwei Fichtennadelbäder
und durch ein Sprudelbad pro Woche gefördert wurde, war diese Klinik
ein riesiger Fortschritt für mich, denn hier hatte ich einen Rollstuhl
und konnte mich freier bewegen." Nach der Abgeschiedenheit in Omas Wohnung
symbolisierte der Park, in dem sich Peter nun mit dem Rollstuhl frei
bewegen konnte, eine neue Freiheit.
Demgegenüber stellte die miserable medizinische Versorgung für
Peter zunehmend eine große Belastung dar, vor allem die urologische
Versorgung bereitete riesige Probleme. "Ich war regelmäßig
krank und hatte 40 Grad Fieber. Der Urologe kam zwar regelmäßig
zum Schach spielen bei mir vorbei, aber außer dass er mir in solchen
Fällen Spritzen oder Bluttransfusionen gab, geschah nichts. Als
es wieder einmal gesundheitlich schlecht um mich stand und er wieder
zum Schach spielen kam - das war übrigens das einzige Mal, dass
er gewonnen hat - war es so schlimm, dass ich in ein Krankenhaus in
Frankfurt eingewiesen werden musste." Dort stellten die Ärzte schnell
fest, dass eine von Peters Nieren mittlerweile so kaputt war, woraufhin
diese entfernt werden musste.
Ende der 70er Jahre ergaben sich schließlich Peter erste Kontakte
mit dem Club Behinderter und ihrer Freunde - CeBeeF - in Kassel und
damit auch mit anderen behinderten Menschen. Obwohl es damals für
einen blinden Rollstuhlfahrer nicht einfach war, eine Fahrt von Gudensberg
nach Kassel zu organisieren, schaffte es Peter mit Hilfe einer Freundin,
die ihn hinfuhr. "Mit dem Kasseler CeBeeF fuhr ich auch das erste Mal
in Urlaub. Erst ging es an den Diemelsee in Nordhessen und später
machten wir eine Fahrt nach Holland." Ohne die Hilfe eines Zivildienstleistenden
aus dem Altenheim, der in seiner Freizeit mit ihm mitfuhr, wären
diese ersten Urlaube für ihn schlichtweg nicht machbar gewesen.
Ungeahnte Möglichkeiten
1981 leitete ein ärgerlicher Unfall eine schicksalhafte Veränderung
für Peter ein. "Kurz vor einer geplanten Reise fiel ich aus dem
Rollstuhl, weil ich einen im Park ausgelegten Feuerwehrschlauch nicht
gesehen hatte und brach mir das Bein." Obwohl die heiß ersehnte
Reise damit natürlich passé war, weil Peter in die Wicker
Kliniken in Bad Wildungen eingeliefert und operiert werden musste, öffneten
sich ihm plötzlich neue Türen. "Hier tat sich für mich
eine völlig neue Welt auf, denn ich traf dort andere Rollstuhlfahrer,
die ganz unterschiedlich und zum Teil in eigenen Wohnungen lebten. Viele,
mit denen ich damals sprach, erklärten mich für völlig
verrückt, dass ich in einem Altenheim lebe. So entschloss ich endgültig
Nägel mit Köpfen und mein Abitur an der Blindenstudienanstalt
in Marburg zu machen." Ein anderer Vorteil dieses Aufenthaltes in der
Wicker Klinik bestand für Peter darin, dass er nun endlich eine
angemessene Rehabilitation erhielt. "Ich erlernte dort plötzlich
Techniken, wie ich mich allein an- und ausziehen kann, sowie mich vom
Rollstuhl umzusetzen. Zudem erhielt ich Krankengymnastik und stärkte
meine Muskeln, ich ging schwimmen - es war einfach ein tolles Erlebnis,
denn hier bekam ich alles, was ich 15 Jahre in keinster Weise erhalten
hatte." Obwohl der Beinbruch längst auskuriert war, blieb Peter
sieben Monate in der Klinik und machte sich fit für neue Herausforderungen.
Aufbäumen für ein Einzelzimmer
Von neuem Selbstbewusstsein beseelt rief er aus der Klinik kurzerhand
beim Leiter des Altenheims an und forderte für sein Zurückkommen
ein Einzelzimmer in der Aufstehstation. Der Heimleiter glaubte anfangs,
seinen Ohren nicht zu trauen und dachte, die Reha sei Peter in den Kopf
gestiegen. "Als er schließlich damit argumentierte, dass er immer
dachte, ich würde es als meine Aufgabe betrachten, in der Pflegestation
für Andere da zu sein, erklärte ich ihm kurzerhand, diese
Aufgabe sei nun beendet." Und tatsächlich - als Peter nach seinem
Klinikaufenthalt zurück ins Altenheim kam, war ein Einzelzimmer
für ihn frei geworden. "Nachdem ich mittlerweile 35 Jahre alt war,
hatte ich nun zum ersten Mal in meinem Leben ein eigenes Zimmer. Noch
am Heiligen Abend fuhren wir nach Kassel und kauften bei IKEA Möbel
ein." Nun ging es Schlag auf Schlag weiter. Nach der Ãœberwindung
vieler bürokratischer und langwieriger Hürden, fuhr Peter
letztendlich mit Hilfe einer Schwester des Altenheims an einem Sonntag
im August 1983 nach Marburg, wo er an der Deutschen Blindenstudienanstalt
einen völlig neuen Lebensabschnitt begann.
Plötzlich war Peter nun alleine für sein Frühstück
zuständig und musste das Brot selbst schmieren. "Im Altenheim war
dies alles geregelt, so dass ich mich an manche Dinge ganz neu gewöhnen
musste." Zur Unterstützung stand für Peter ein Zivildienstleistender
von der Schule zur Verfügung, den er mit der anderen Rollstuhlfahrerin
teilen musste, die zu dieser Zeit auch an der Blindenstudienanstalt
war. "Da diese vieles für sich schon organisiert und einen großen
Freundeskreis hatte, konnte ich den Zivi fast voll nutzen, was mir eine
große Hilfe war." Denn jetzt hatte Peter mit seiner neuen Freiheit
erst einmal einiges nachzuholen. "Ich war nun fast jeden Abend lange
unterwegs und ging in die Marburger Kneipen, zu Veranstaltungen, etc.
Obwohl ich dachte, dass ich in der Schule mit dem Lernen Schwierigkeiten
hätte, mit den Jüngeren mitzuhalten, zeigte sich schnell,
dass dies für mich gar kein Problem war. Als einziger Blinder unter
Sehbehinderten musste ich mich zwar hin und wieder etwas durchsetzen,
doch war ich ohne größeres Nacharbeiten stets unter den Besten.
Ich war richtig lerngeil und fühlte mich wie im siebten Himmel."
Einem Beruf steht nichts mehr im Wege
So aktiv und ausgefüllt verging die Zeit für Peter nunmehr
wie im Fluge. 1986 machte er sein Abitur mit einem Durchschnitt von
1,7. All diejenigen strafte er damit Lügen, die früher behauptet
hatten, dass er niemals studieren könnte, indem er sogar ein Stipendium
der renommierten Friedrich-Ebert-Stiftung für sein Jurastudium
erhielt. Eine gute Leistung erbrachte Peter auch in seinem Jurastudium,
das er recht schnell, nach 11 Semestern, zu Ende brachte und das Prädikatsexamen
lediglich um wenige Punkte verfehlte. Der Studienzeit folgte das 3jährige
Referendariat mit dem dazugehörigen Examen, so dass Peter im Frühjahr
1996 sein Examen als Jurist in Händen hielt. Bei der in Marburg
ansässigen Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit
geistiger Behinderung nahm Peter dann eine Stelle als Jurist in der
Rechtsabteilung an. Als Experte im Sozial- und Rentenrecht gefällt
Peter Dietrich, dass er sich im Rahmen dieser Tätigkeit auch in
der Behindertenpolitik engagieren und auf diese Weise Veränderungen
vorantreiben kann.
Die eigene Wohnung
Seit 1995 wohnt Peter allein in seiner Wohnung und genießt dies,
obwohl das zwischenzeitliche Zusammenleben mit den früheren Studienkollegen
auch eine tolle Zeit war. Mit Hilfe seiner Assistenz, die Peter aufgrund
des Bestandsschutzes noch auf 13 Stunden täglich bewilligt bekommen
hat, kann Peter seine behinderungsbedingten Nachteile im Haushalt, in
der Freizeit und an der Arbeit weitgehend ausgleichen. "Meinen AssistentInnen
mache ich in der Regel gleich beim Einstellungsgespräch deutlich,
dass es sich bei ihrer Arbeit um einen hochpolitischen Akt handelt.
Durch ihr Handeln, sei es manchmal auch bloße Hausarbeit, wird
mir ein eigenständiges Leben ermöglicht." So gelingt es Peter
auch in der Regel die Assistenz so einzusetzen, dass er sein Leben flexibel
gestalten kann, was in seinem Job auch unumgänglich ist. "Ich habe
aber noch Glück gehabt, weil ich unter den Bestandsschutz falle.
Heute ist es viel schwieriger die nötige Assistenz durchzusetzen.
Eine Bekannte mit einer ähnlichen Behinderung bekommt zum Beispiel
über drei Stunden weniger Assistenz als ich. Die härteren
Sitten auf den Ämtern erfordern ein enormes Durchhaltevermögen
und der Druck in Einrichtungen zu gehen, anstatt eigenständig zu
leben, ist wieder sehr hoch."
Peters Hobbys sind Lesen und Reisen. "Bereits im Altenheim hatte ich
einen Blindenatlas, in dem ich immer geblättert habe und mir die
Orte vorgestellt habe, die ich einmal besuchen werde." So hat Peter
einen großen Nachholbedarf, den er durch vielfältige Reisen
der letzten Jahre langsam ausgleicht. "Ich buche in der Regel einen
Flug und vielleicht noch eine Übernachtung für die erste Nacht
und dann geht´s ab ins Land. Ich liebe dabei die Spannung mit
der Frage 'wo lande ich morgen'."
Zusammenfassend hält Peter fest: "Ich bin auf jeden Fall froh,
dass ich damals doch aus dem Altenheim ausgezogen bin, denn auch im
besten Heim oder in der besten Wohngruppe muss man sich immer in eine
feste Struktur einfügen. Besonders bei der Freizeitgestaltung gibt
es dort stets erhebliche Einschränkungen, weil diese mit ihrem
Personal keine adäquate Außenassistenz bieten können,
die allen gerecht wird."
Ein ausführlicheres Porträt von Peter Dietrich findet sich
in folgender Publikation gisela hermes susanne göbel ottmar miles-paul;
"graadse leeds" - "jetzt erst recht!" selbsthilfe behinderter menschen
in portraits. BIFOS-Schriftenreihe zum selbstbestimmten Leben Behinderter.
2000, ISBN: 3-932951-15-8
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