Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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Fazit und (Heraus-)Forderungen an die Politik

Elke Bartz

von Elke Bartz

Mit dieser Publikation wollen wir darstellen, was persönliche Assistenz für das Leben und die Lebensqualität behinderter Menschen bedeutet. Darum haben wir in der Einführung bewusst darauf verzichtet, auf die Finanzierungsproblematik und die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der aktuellen Gesetzgebung für auf personelle Hilfen angewiesene Menschen einzugehen. Verzichtet haben wir eingangs darauf, weil behinderte Menschen insbesondere von den Kostenträgern, häufig aber auch vom Gesetzgeber primär als Kostenfaktoren angesehen und behandelt werden. Wir sind jedoch der Meinung, dass der behinderte Mensch in erster Linie als Bürgerin und Bürger mit Rechten auf Nachteilsausgleiche anzusehen und zu behandeln ist. Finanzielle Aspekte dürfen nur sekundär eine Rolle spielen.

Keine Behinderten zweiter Klasse

Rechte auf Teilhabe in der Gemeinschaft, Diskriminierungsverbote und das Recht auf Gleichstellung darf nicht den behinderten Menschen vorbehalten werden, die nicht auf personelle Unterstützung angewiesen sind. Assistenz ist die absolute Basis, um andere Rechte und Pflichten überhaupt erst wahrnehmen zu können.

Ein barrierefreier Arbeitsplatz, der den Unterhalt sichert, der barrierefreie öffentliche Personenverkehr, barrierefreie Gaststätten und Kinos usw. sind dringend notwendig. Daher ist das neue Bundesgleichstellungsgesetz durchaus zu begrüßen. Es hilft jedoch auf personelle Hilfen angewiesenen Menschen nicht, wenn diese mangels der Hilfen erst gar nicht aus dem Bett kommen, oder sie die notwendige Begleitung außer Haus nicht finanzieren können.

Auf personelle Hilfen Angewiesene dürfen nicht als "Behinderte zweiter Klasse" benachteiligt und ausgeschlossen werden.

Die Finanzierung persönlicher Assistenz und ihre Probleme

Assistenznehmende Menschen, die aufgrund eines Arbeitsunfalls oder eines unverschuldeten Unfalls mit unfallgegnerischer Haftpflichtversicherung auf Assistenz angewiesen sind, haben relativ geringe Probleme, die Assistenzkosten durch diese Versicherungen finanziert zu bekommen. Da diese Assistenz als Folge und Ausgleich der Behinderung gilt, wird die Erstattung der Kosten selbstverständlich einkommens- und vermögensunabhängig geleistet.

Pflegeversicherung und die Auswirkungen auf behinderte ArbeitgeberInnen

Vollkommen anders stellt sich die Situation dar, wenn die Behinderung auf einem privaten Unfall, auf einer chronischen Erkrankung beruht, oder von Geburt an besteht. Hier müssen vorrangig die Geldleistungen der Pflegeversicherung (§ 37 SGB XI) eingesetzt werden. Diese decken den Assistenzbedarf jedoch nur dann, wenn umfangreiche ehrenamtliche Hilfe zur Verfügung steht. Es ist nach wie vor ein großes Problem für behinderte ArbeitgeberInnen, lediglich die Geldleistungen der Pflegeversicherung (die zur "Entlohnung ehrenamtlicher Pflegepersonen" eingesetzt werden sollen) beanspruchen zu können. Sachlich korrekter wäre die Berechtigung, Einzelverträge mit den Pflegekassen abschließen zu können und damit sachleistungsberechtigt nach § 36 SGB IX zu sein, da es sich beim Assistenz- bzw. ArbeitgeberInnenmodell nicht um ehrenamtliche Hilfen, sondern um steuer- und sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse handelt. Zwar hat der Gesetzgeber zum Schutz des ArbeitgeberInnenmodells § 69c (Leistungskonkurrenz) in das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) eingefügt, der besagt, dass die örtlichen Träger der Sozialhilfe Pflegebedürftige, die ihre Pflege selbst organisieren, nicht auf die Sachleistungen der Pflegeversicherung verwiesen dürfen. Bei Kostenvergleichen zwischen dem ArbeitgeberInnenmodellen und anderen, insbesondere stationären, Versorgungsmöglichkeiten, kommt die Differenz zwischen Geld- und Sachleistungen jedoch in voller Härte zum Tragen. Es ist also dringend notwendig, hier gesetzliche Änderungen vorzunehmen und behinderte ArbeitgeberInnen als VertragspartnerInnen der Pflegekassen anzuerkennen.

Leistungen nach der Krankenversicherung

Schwerbehinderte Menschen können die Kostenübernahmen für Hilfeleistungen, die zu den Leistungen der Behandlungspflege zählen, über die Krankenkassen nach dem SGB X finanzieren. Diese Leistungen sind ebenfalls einkommens- und vermögensunabhängig. Entgegen der Meinung mancher SachbearbeiterInnen der Krankenkasse schreibt der Gesetzgeber nicht vor, dass diese Behandlungspflege ausschließlich von Fachpflegekräften erbracht werden dürfen.

Arbeitsassistenz

Mit Einführung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) wurde der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) manifestiert. Damit besteht als positiver Aspekt ein einkommens- und vermögensunabhängiger Rechtsanspruch. Negativ ist jedoch der derzeitige (November 2001) Umgang der Integrationsämter mit der Gewährung von Arbeitsassistenz. Entweder werden Anträge sehr schleppend bearbeitet, Leistungen von vornherein unter teils sehr fadenscheinigen Begründungen verweigert, oder die Leistungen werden auf unzureichende Summen limitiert. Hier gilt es verbindliche Durchführungsverordnungen zu schaffen, damit auch schwerstbehinderte Menschen ihren Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz unproblematisch und in erforderlichem Umfang durchsetzen können.

Bundessozialhilfegesetz

Auf Assistenz angewiesene behinderte Menschen, die ihren Bedarf nicht ausschließlich mittels Leistungen der Pflegeversicherung und/oder im Rahmen der Arbeitsassistenz decken können und die nicht über andere vorrangige Kostenträger verfügen, sind auf Leistungen der örtlichen Sozialhilfeträger angewiesen. Leistungsansprüche bestehen im Rahmen der Hilfe zur Pflege nach §§ 68 und 69 BSHG, sowie im Rahmen der Eingliederungshilfen nach §§ 39 und 40 BSHG. Da Sozialhilfeleistungen einkommens- und vermögensabhängig gewährt werden, bedeutet das für die betroffenen Menschen, ihr Einkommen und Vermögen, das gewisse niedrige, schon seit mehreren Jahren nicht mehr erhöhte, Freibeträge übersteigt, für die Assistenzkosten einsetzen zu müssen. Egal wie viel Leistungen im Berufsleben ein behinderter Mensch, aber auch als unterhaltsverpflichtet, seine Familienagehörigen erbringen, müssen sie immer ein Leben auf Sozialhilfeniveau fristen. Dies bedeutet eine gravierende Diskriminierung und Benachteiligung, die sämtlichen Gleichstellungsprinzipien und Rechten auf Chancengleichheit widerspricht.

Besonders fatal wirkt sich der zum 1. August 1996 ins BSHG eingeführte neue § 3a aus. Dieser lässt erstmals einen direkten Kostenvergleich zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu. Eine "Zumutbarkeitsklausel" soll zwar verhindern, dass behinderte Menschen gegen ihren Willen auf stationäre Einrichtungen verwiesen werden. Doch die Praxis der vergangenen fünf Jahre hat gezeigt, dass die Sozialhilfeträger in der Regel ausschließlich nach Kostenaspekten bescheiden.

Dabei werden jedoch sekundäre Kosten, die durch die Unterbringung in Anstalten entstehen, wie Bau der Anstalten, Investitionskosten, und vieles andere mehr, bei Kostenvergleichen nicht berücksichtigt. Weiterhin wird vollkommen außer Acht gelassen, dass Einrichtungen in der Regel niemals die gleichen Leistungen im selben Umfang erbringen, wie sie der behinderte Mensch mit persönlicher Assistenz erhält.

Zunehmend positive Rechtsprechungen weisen zwar vermehrt darauf hin, dass nur konkrete Leistungsvergleiche hinsichtlich Art und Umfang Kostenvergleiche überhaupt rechtfertigen. Zuvor muss jedoch geprüft werden, ob es einem behinderten Menschen überhaupt zuzumuten ist, sein selbstbestimmtes Leben im gewohnten sozialen Umfeld aufzugeben und sich in die Anonymität einer fremdbestimmenden Einrichtung zu begeben.

Angesichts dieser Rechtssprechung gehen die örtlichen Träger der Sozialhilfe in der letzten Zeit vermehrt dazu über, am beantragten Umfang der Hilfeleistungen zu zweifeln bzw. diesen als überzogen zu bezeichnen. So wurde zwei Schwestern zunächst ein Bedarf an Eingliederungshilfe von einer Stunde täglich zugebilligt, mit dem sie alle aushäusigen Aktivitäten, sowie alle Leistungen, die nicht unmittelbar mit der Pflege zu tun haben, abdecken sollten. Erst der Gang vor das Verwaltungsgericht brachte Abhilfe.

Besonders fatal erweisen sich die (in den meisten Bundesländern) unterschiedlichen Zuständigkeiten der Kostenträger. Da die stationären Kosten von den überörtlichen, die ambulanten jedoch von den örtlichen Sozialhilfeträgern finanziert werden, "entlastet" jeder behinderte Mensch, der in einer Anstalt versorgt wird, die kommunalen Kassen. Daher ist es dringend notwendig, sowohl stationäre als auch ambulante Kosten anteilsmäßig auf die örtlichen und überörtlichen Träger der Sozialhilfe zu verteilen, oder den Kommunen anderweitige Finanzausgleiche zu gewähren.

Wie die rund 1500 bis 2000 mit Assistenz lebenden behinderten Menschen und die Rechtsprechung beweisen, existiert selbstverständlich ein Rechtsanspruch auf Assistenz. Es ist jedoch unzumutbar, dass dieser Rechtsanspruch häufig erst vor den Gerichten eingeklagt werden muss. Verwaltungsgerichtsverfahren dauern in der Regel mehrere Jahre. Assistenzleistungen sind jedoch von den Betroffenen von existenzieller Bedeutung. Sie werden sofort und kontinuierlich benötigt und nicht erst nach Jahren.

Daher müssen die rechtlichen Voraussetzungen zur Umsetzung persönlicher Assistenz dringend verbessert werden. Außerdem müssen die Leistungen einkommens- und vermögensunabhängig gewährt werden, um Benachteiligungen gegenüber Nichtbehinderten oder nicht auf Assistenz angewiesen Menschen zu beseitigen.

Durch entsprechende gesetzliche Regelungen muss ferner die Freizügigkeit behinderter Menschen gesichert werden. Das bedeutet, ein einmal anerkannter Bedarf muss auch bei einem Umzug erhalten bleiben. Derzeit müssen assistenznehmende Menschen bei einem Umzug die Kostenübernahmen wieder neu beantragen und die Verfahren erneut durchlaufen. Dies kann zum Beispiel daran hindern, in einen anderen Wohnort zu ziehen, wenn der behinderte Mensch dort einen Arbeitsplatz angeboten bekommt.

Persönliche Budgets

Das SGB IX als Gesetz zur Rehabilitation und Teilhabe (auch im sozialen Bereich) sieht die Erprobung von Persönlichen Budgets in Modellprojekten vor. Persönliche Budgets können, sofern sie den jeweiligen individuellen Bedarf decken, ein geeignetes Instrument zur Finanzierung persönlicher Assistenz darstellen. Individuelle persönliche Budgets stärken die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der BudgetnehmerInnen. Vorrangige Leistungen wie die der Pflegeversicherung können in Persönlichen Budgets "aufgehen". Persönliche Budgets müssen einkommens- und vermögensunabhängig gewährt werden.

Behinderte - selbst schwerstbehinderte - Menschen haben in den vergangenen zwanzig Jahren bewiesen, dass sie selbstbestimmt und eigenverantwortlich als Bürgerinnen und Bürger in unserer Gesellschaft leben können, wenn ihnen die notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen zur Verfügung stehen. Nun ist es an der Zeit, dass der Gesetzgeber die jahrzehntelange "Vorarbeit" der behinderten Menschen anerkennt und durch eine innovative Gesetzgebung würdigt.

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