Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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Rechtliche Grundlagen für den Anspruch auf Persönliche Assistenz

Referat Kongress „Assistenz – Schlüssel zur Selbstbestimmung behinderter Menschen"

Dr. Andreas JürgensMeine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freunde,

ich bin von den Veranstaltern dieses Kongresses gebeten worden, über rechtliche Grundlagen der persönlichen Assistenz zu referieren. Die Themenstellung zu bewältigen fiele mir deutlich einfacher, wenn ich Ihnen gesetzliche Regelungen vorstellen könnte, in denen tatsächlich ein Anspruch auf persönliche Assistenz positiv verankert ist und ich mich auf die Darstellung der Leistungsvoraussetzungen und ihrer Geltendmachung konzentrieren könnte. Die heute reichlich vertretenen „Expertinnen und Experten in eigener Sache" verrate ich nichts neues wenn ich bekennen muss, dass es gegenwärtig eine solche gesetzliche Grundlage nicht gibt. Daher werde ich den Bogen spannen müssen von der Bewertung der gegenwärtig unzulänglichen Regelungen in den einzelnen Gesetzen über einen Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes zu Überlegungen darüber, wie eine gesetzliche Regelung des Anspruchs auf persönliche Assistenz aussehen könnte.

Voranstellen möchte ich kurz, was unter persönlicher Assistenz eigentlich verstanden wird in Abgrenzung zu anderen Formen der Hilfeleistung. Auch dies ist bei dem anwesenden Fachpublikum ein Stück weit „Eulen nach Athen tragen", deshalb werde ich mich hierbei auch kurz fassen.

Der Begriff „Assistenz" macht bereits eines deutlich, nämlich dass nicht der Assistent, sondern derjenige, dem die Assistenz zuteil wird, die bestimmende Person sein soll. Assistenz beschreibt auch in anderen Zusammenhängen immer eine zuarbeitende, untergeordnete Funktion. Nicht der Assistent, sondern der „Assistenznehmer" – wenn man es so ausdrücken soll – bestimmt den Aufgabenbereich des Assistenten, seine Arbeitsweise und Funktion. Das weitere Merkmal „persönlich" bedeutet, dass die Hilfe für die Person des Assistenznehmers geleistet wird. Wenn aufgrund der verschiedenen Beeinträchtigungen bei Tätigkeiten, die von nichtbehinderten Personen üblicherweise ohne die Hilfe anderer selbständig wahrgenommen werden, Unterstützung durch einen Assistenten benötigt wird, kann dies Gegenstand einer persönlichen Assistenzleistung sein.

In der langen Geschichte der Diskussion über den Begriff „persönliche Assistenz" haben sich fünf "Kompetenzen" für die Betroffenen herausgestellt, anhand derer wir beurteilen können, ob von Selbstbestimmung mit persönlicher Assistenz die Rede sein kann oder nicht. Dies heißt nicht, daß alle Merkmale hundertprozentig erfüllt sein müssen.Das wäre vielfach gar nicht möglich. Je stärker sie verwirklicht sind, desto eher können wir jedoch von einer tatsächlichen persönlichen Assistenz sprechen.

Es sind dies im einzelnen,

  1. die Organisationskompetenz: wie, mit welchem Ziel und von wem die Hilfe geleistet wird, bestimmt der Dienstleistungsempfänger selbst.
  2. Die Personalkompetenz: welche Personen konkret die Hilfe übernehmen, wird von den Betroffenen bestimmt.
  3. Die Anleitungskompetenz: wie die konkrete Hilfe von den HelferInnen ausgeführt wird, richtet sich nach den Anweisungen der Betroffenen, die als Experten in eigener Angelegenheit ihre Bedürfnisse am besten kennen.
  4. die Finanzkompetenz: die Dienstleistungsnehmer bezahlen wie bei jeder anderen Dienstleistung auch die in Anspruch genommene Hilfe auf der Grundlage vertraglicher Vereinbarungen. Die Mittel werden entweder - selten - selbst aufgebracht oder durch Inanspruchnahme von Leistungen des jeweils zuständigen Sozialleistungsträgers.
    Und schließlich
  5. Zeit- und Ortskompetenz: Wann und an welchem Ort die Dienstleistung erbracht wird, bestimmt der Assistenznehmer je nach seinen Bedürfnissen.
Schauen wir uns jetzt einmal an, wie die Möglichkeiten einer persönlichen Assistenz in den gegenwärtigen Sozialleistungsbereichen geregelt sind. Wir werden feststellen, dass die Regelungen gegenwärtig höchst unzulänglich sind und vor allem einen unübersichtlichen Flickenteppich zuständiger Träger und einzelner Leistungen darstellen.

 

Da ist zunächst die soziale Pflegeversicherung nach den Vorschriften des SGB XI. Sie soll nach § 2 Abs. 1 SGB XI „den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht". Man sollte meinen, dass auch die persönliche Assistenz, die den betroffenen Menschen sicher das größte Maß an Selbstbestimmung gewährleistet, auch zum Leistungsspektrum der Pflegeversicherung gehört. Das ist allerdings nur sehr eingeschränkt der Fall.

Große Einschränkungen ergeben sich bereits aus der Definition der Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI. Zwar wird in § 14 Abs. 1 SGB XI noch davon gesprochen, dass ein Bedarf bei den „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens" Pflegebedürftigkeit begründen können. Allerdings wird dies relativ weite und offene Formulierung durch den Abs. 4 eingeschränkt. Darin sind nämlich diejenigen Verrichtungen in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Verrichtungen genannt, die berücksichtigt werden. Insbesondere hinsichtlich der Mobilität ist dies stark eingeschränkt, insbesondere sind Begleitungen außerhalb des Wohnumfeldes, kulturelle und sonstige Aktivitäten nicht erfasst.

Auch bei der Leistungserbringung orientiert sich die Pflegeversicherung weniger am selbstbestimmten Prinzip der Assistenz, als vielmehr am überkommenen Leitbild einer paternalistischen Pflege, bei der die einzelnen Kompetenzen eben nicht beim Assistenznehmer, sondern beim Erbringer der Dienstleistung liegen. Wenn ein Pflegebedürftiger die sogenannte Pflegesachleistung wählt, gibt er damit zugleich einen Teil seiner persönlichen Autonomie an die Pflegekasse bzw. den gewählten Pflegedienst ab.

Dann ist es nichts mit der Zeitkompetenz: Nach den Qualitätssicherungsmaßstäben der Pflegeversicherung hat die Pflegedienstleitung die Pflegezeiten "nach den Bedürfnissen der Leistungsempfänger/innen" festzulegen, also nicht der Betroffene selbst.

Auch die Personalkompetenz fehlt: Die Pflegesachleistungen dürfen nur von Pflegediensten oder Einzelpersonen erbracht werden, die mit den Pflegekassen Versorgungsverträge abgeschlossen haben. Welche Personen von diesen Diensten oder Einzelpersonen eingesetzt werden, bestimmen diese selbst und nicht der Betroffene. Dieser hat allerdings die freie Wahl unter den Vertragsdiensten und kann daher jedenfalls teilweise die Pflegekräfte auch auswählen. Bei der Leistungserbringung durch anerkannte Einzelpersonen ist sogar festgehalten, dass diese mit der pflegebedürftigen Person kein Beschäftigungsverhältnis eingehen dürfen. Auch hier ist also eine Weisungsgebundenheit der Pflegeperson ausdrücklich ausgeschlossen.

 

Auch eine Anleitungskompetenz nicht vorgesehen. Im Gegenteil ist in den Bundesempfehlungen für die Rahmenverträge über die Leistungen der ambulanten Pflegeeinrichtungen nachzulesen, daß diese vom Gedanken der Fremdbestimmung geprägt sind. Dort heißt es z.B.: "Im Rahmen der Planung von Mahlzeiten und der Hilfe bei der Nahrungsaufnahme ist eine ausgewogene Ernährung anzustreben. .. Der Pflegebedürftige ist bei der Essens- und Getränkeauswahl, ... zu beraten." Wer Hilfe beim Essen und Trinken braucht, muß also auch darüber diskutieren, was er ißt. Oder: "das An- und Auskleiden umfaßt auch die Auswahl der Kleidung gemeinsam mit dem Pflegebedürftigen", auch hier ist eine Alleinentscheidung der/des Betroffenen - was eigentlich selbstverständlich sein sollte - nicht vorgesehen. Und weiter: "Beim Aufstehen und Zubettgehen sind Schlafgewohnheiten, Ruhebedürfnisse und evtl. Störungen angemessen zu berücksichtigen". Auch dies kann nur bedeuten, daß der Zeitpunkt des Aufstehens und Zubettgehens vom ambulanten Dienst bestimmt wird nach dem jeweiligen Dienstplan, die Bedürfnisse der/des Betroffenen sind hierbei nur zu "berücksichtigen".

Auch eine Finanzkompetenz für die pflegebedürftige Person ist bei den Pflegesachleistungen nicht vorgesehen. Wie der Name schon sagt hat der Versicherte einen unmittelbaren Anspruch gegen die Pflegekasse auf Erbringung der entsprechenden Dienstleistung, die sich dafür wiederum in der Regel jedenfalls der Vertragsdienste bedienen wird. Die Vergütung für diese Dienste wird allein zwischen dem Dienst und der Kasse geregelt ohne Beteiligung des Pflegebedürftigen. Dies bedeutet auch, daß der Versicherte keinerlei Möglichkeit hat, z.B. Schlechtleistungen der Dienste durch Kürzung der Vergütung zu sanktionieren. Die bereits von der Krankenkasse sattsam bekannten Probleme des Sachleistungsprinzips gelten auch für die Pflegeversicherung.

AssistenznehmerInnen können sich bei der Pflegeversicherung nur dadurch behelfen, dass sie das – allerdings wesentlich geringere – Pflegegeld in Anspruch nehmen und hiermit ihre Assistenz teilweise finanzieren. Da allerdings die Leistungen der Pflegeversicherung – gleichviel ob Pflegesachleistung oder Pflegegeld – ohnehin nicht bedarfsdeckend sind, müssen die weitaus meisten auf ergänzende Leistungen der Sozialhilfeträger im Rahmen der Hilfe zur Pflege nach §§ 68 ff BSHG zurückgreifen. Trotz der Angleichung der Leistungen bei Einführung der Pflegeversicherung geht die Sozialhilfe nach wie vor über die Leistungen der Pflegeversicherung hinaus und zwar in verschiedener Hinsicht:

  1. kann auch ein Bedarf bei anderen als den im SGB XI genannten Verrichtungen des täglichen Lebens Leistungen begründen. Das kann z.B. bedeutsam sein bei Kommunikationshilfen, bei kulturellen und politischen Aktivitäten etc.
  2. sind die Leistungen der Sozialhilfe nicht wie diejenigen der Pflegeversicherung der Höhe nach gedeckelt. Weiterhin gilt der Grundsatz der Bedarfsdeckung im Sozialhilferecht: ein bestehender Bedarf muss vom Sozialhilfeträger erfüllt werden, wenn der Hilfebedürftige die notwendige Hilfe nicht selbst beschaffen kann oder von anderer Seite erhält.
  3. schließlich sind die Sozialhilfeträger nicht darauf festgelegt, die Dienstleistung nur durch anerkannte Pflegedienste erbringen zu lassen. Vielmehr können auch andere Pflegekräfte, insbesondere auch solche, die beim Pflegebedürftigen angestellt sind, zur Dienstleistung herangezogen werden.

Allerdings sind die Leistungen der Sozialhilfe im Gegensatz zu denjenigen Pflegeversicherung einkommens- und vermögensabhängig. Wer die gesetzlichen Einkommensgrenzen überschreitet oder über verwertbares Vermögen verfügt, muss den überschießenden Teil seines Einkommens und Vermögens zur Finanzierung der Assistenz zunächst einsetzen.

Dieses relativ komplizierte Nebeneinander verschiedener Leistungsbereiche führt zu einer bundesweit sehr unterschiedlichen Umsetzung: vielfach gelingt es behinderten AssistenznehmerInnen, ihre persönliche Assistenz mit Hilfe des zuständigen Sozialhilfeträgers umzusetzen. Dieser muss dann allerdings bereit sein, die Differenz zwischen dem Pflegegeld der Pflegeversicherung und dem Betrag der Pflegesachleistung zusätzlich zu übernehmen. Dies ist vielfach dann der Fall, wenn trotz dieser Mehrbelastung für den Sozialhilfeträger der Gesamtbetrag der Kosten niedriger ist, als bei der Inanspruchnahme eines anerkannten Pflegedienstes. Oft müssen erst umfangreiche Rechtstreitigkeiten geführt werden, die für die Betroffenen auch nicht immer positiv ausgehen. Schließlich schwebt über allen noch das Damoklessschwert des § 3a BSHG. Dieser schreibt zwar grundsätzlich den Vorrang ambulanter Hilfen vor statinonären fest. Hiervon gibt es aber eine bedeutsame Ausnahme: wenn nämlich eine stationäre Hilfe zumutbar und die ambulante für den Kostenträger mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind, brauchen diese Kosten nicht übernommen zu werden. Die betroffenen Personen müssen dann ins Heim oder mit den einer Heimunterbringung entsprechenden Kosten versuchen, ihre häusliche Pflege mehr schlecht als recht sicherzustellen.

Insbesondere diejenigen AssistenznehmerInnen, die einen hohen täglichen Assistenzbedarf haben und daher auf die Sozialhilfe zurückgreifen müssen – das sind die meisten, die mit Assistenz arbeiten – müssen daher auf Dauer mit mehreren Unzulänglichkeiten leben:

  • sie sind auf das Wohlwollen ihres Sozialhilfeträgers bei der Gestaltung der Hilfe angewiesen, der hierbei einen weiten Ermessensspielraum hat,
  • sie bleiben ständig auf dem Einkommensniveau, das die Einkommensgrenzen ermöglichen, unabhängig von beruflichem Aufstieg oder Weiterqualifikation,
  • und sie leben immer in der Sorge, auf das Leben in einer Institution als preiswertere Alternative verwiesen zu werden.

Ich möchte bei der Beschreibung der gegenwärtigen Rechtsgrundlagen für die persönliche Assistenz noch zwei Bereiche ansprechen, die in der Praxis eine zunehmende Rolle spielen.

Wer als behindertes Elternteil Hilfe bei der Betreuung von Kindern benötigt, kann diese vom Jugendamt erhalten und zwar unter den Voraussetzungen des § 20 SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe). Danach können Hilfen für die Betreuung und Versorgung von Kindern im elterlichen Haushalt übernommen werden, wenn die Eltern aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen auf diese Hilfe angewiesen sind. Weitere Vorschriften insbesondere über die inhaltliche Gestaltung der Hilfe gibt es nicht, die Jugendämter sind daher hierbei wesentlich freier, als die Pflegekassen oder die Sozialämter im Rahmen der Hilfe zur Pflege. Insbesondere können sie auch die Kosten für eine persönliche Assistenz übernehmen, wenn diese erforderlich ist, um die notwendige Betreuung eines Kindes von behinderten AssistenznehmerInnen sicherzustellen. Ausgestaltet ist diese Hilfe als eine solche für das Kind, nicht so sehr für den behinderten Elternteil. In der Praxis wird sie aber häufig eben auch als Hilfe bei der Wahrnehmung der Elternrolle gesehen und damit wiederum als persönliche Assistenz auch für die behinderte Person.

Der letzte und in der Gesetzgebungsgeschichte jüngste Bereich, den ich noch ansprechen möchte, ist die Arbeitsassistenz. Nach § 33 Abs. 8 Nr. 3 SGB IX gehören zu den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben auch die Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz für schwerbehinderte Menschen als Hilfe zur Erlangung eines Arbeitsplatzes. Diese wird von dem zuständigen Rehabilitationsträger – z.B. dem Rentenversicherungsträger - für die Dauer von längstens drei Jahren erbracht und über das Integrationsamt abgewickelt. Wird länger als drei Jahre entsprechende Arbeitsassistenz benötigt, so können die Kosten hierfür vom Integrationamt direkt übernommen werden nach § 102 Abs. 4 SGB IX, allerdings nur im Rahmen der aus der Ausgleichsabgabe der Arbeitgeber zur Verfügung stehenden Mittel.

Diese Regelungen sind relativ neu und ihre Aufnahme im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens in das SGB IX entsprach einer wichtigen Forderung vieler Behindertenverbände. Nähere Regelungen über die Ausgestaltung der Arbeitsassistenz sind dem Gesetz nicht zu entnehmen. Auch die mir zur Verfügung stehenden Kommentare zum SGB IX schweigen sich über Inhalt und Umfang einer solchen Leistung aus. Inzwischen gibt es aber Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter für die Erbringung von Arbeitsassistenz. Diese wird dabei verstanden als eine „über gelegentliche Handreichungen hinausgehende, zeitlich wie tätigkeitsbezogen regelmäßig wiederkehrende Unterstützung von schwerbehinderten Menschen bei der Arbeitsausführung in Form einer von ihnen beauftragten persönlichen Arbeitsplatzassistenz". Hier wird also anerkannt, dass es eine Leistung für die assistenzbedürftige Person sein soll, nicht wie früher oft eine solche an den Arbeitgeber. Grundsätzlich soll die behinderte Person sich die Kraft selbst besorgen, die entsprechende Assistenzleistungen erbringt. Leistungen sind vorgesehen in Form eines monatlichen Budgets. D.h. der behinderten Person wird ein bestimmter Betrag zur Verfügung gestellt, mit dem dann die Assistenz finanziert werden muss und zwar gestaffelt nach dem arbeitstäglichen Unterstützungsbedarf. Weniger als eine Stunde: bis zu 275,00 Euro; eine bis unter zwei Stunden: bis zu 550,00 Euro; zwei bis unter drei Stunden: bis zu 825,00 Euro und ab mindestens drei Stunden bis zu 1.000,00 Euro. Unabhängig von der Höhe der Leistungen ist jedenfalls nach diesem Prinzip das Assistenzmodell sehr weitgehend durchgehalten. Die vorhin genannten Kompetenzen liegen bei der assistenzbedürftigen Person. Die untergeordnete Hilfsrolle der Assistenz ist festgeschrieben, die Abwicklung erfolgt über ein Budget, über das die betreffende Person weitgehend frei verfügen kann. Es ist sogar möglich, monatliche Budgets auf einen anderen Monat zu übertragen. Auch die Bezeichnung als „Assistenznehmer" wird übernommen. Allerdings wird die Arbeitsassistenz natürlich nur am Arbeitsplatz erbracht und nur als Handreichung für die Arbeit. Was ist aber, wenn die betreffende Person auch am Arbeitsplatz Hilfe beim Toilettengang oder in der Pause Hilfe bei der Nahrungsaufnahme braucht? Arbeitsassistenz oder Hilfe zur Pflege? Ist dafür neben dem anderen Kostenträger auch eine andere Person zuständig? Oder wird die gleiche Person tätig, aber ggf. nach unterschiedlichen Stundensätzen?

Insgesamt ergibt sich also für die persönliche Assistenz ein höchst unterschiedlicher Regelungszusammenhang. Das ist insbesondere deshalb misslich, weil viele AssistenznehmerInnen natürlich alle Assistenzleistungen einheitlich organisieren und planen wollen, faktisch aber die Abwicklung über unterschiedliche Leistungsträger zu jeweils unterschiedlichen Bedingungen überflüssigen Verwaltungsaufwand, Abgrenzungsprobleme und Reibungsverluste produziert bis hin zu einer Abrechnung unterschiedlicher Assistenzleistungen der gleichen Person nach unterschiedlichen Stundensätzen und Leistungsinhalten.

Hieraus ergibt sich die Frage, ob nicht der Gesetzgeber gehalten ist, die Erbringung von Assistenzleistungen generell gesetzlich zu regeln. Ansatzpunkt für eine solche Verpflichtung könnte das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes sein. Nach Art. 20 GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Hieraus hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung das sogenannte Sozialstaatsprinzip entwickelt. Adressat ist vor allem der Gesetzgeber, der die bindende Aufgabe übertragen ist, diesem Prinzip in der Verfassungswirklichkeit Geltung zu verschaffen. Nach allgemeiner Auffassung ergeben sich aus dem Sozialstaatsprinzip allein keine subjektiven Rechte des einzelnen auf eine bestimmte soziale Regelung. Sichergestellt werden müssen allerdings die Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins. Vor allem aber kann sich aus dem Zusammenspiel mit anderen Grundrechten ergeben, dass der Gesetzgeber eben doch zu einer bestimmten Regelung verpflichtet ist.

Für Assistenznehmer ist in der Regel die Inanspruchnahme der Assistenz überhaupt Voraussetzung dafür, ihre Grundrechte z.B. auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), auf Freizügigkeit (Art. 11 GG) und auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG), soweit es sich hierbei um Chancengleichheit in der Verwirklichung eigener Rechte handelt. Die Arbeitsassistenz dient zudem der Verwirklichung des Grundrechts der Berufsfreiheit (Art. 12 GG), möglicherweise sogar der Freiheit der Kunst und der Wissenschaft (Art. 5 Abs. 3 GG). Die Unterstützung nach dem SGB VIII durch die Jugendämter dient zugleich dem verfassungsrechtlichen Auftrag des Schutzes der Familie (Art. 6 GG). Und schließlich sollten wir als verbindende Klammer auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht vergessen: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Die Wahrnehmung der Grundrechte ist assistenzbedürftigen Personen eben nur dann möglich, wenn die notwendige Assistenz auch tatsächlich zur Verfügung steht. Nur dann sind sie gegenüber anderen Personen ohne Behinderung nicht benachteiligt, weil sie am Leben der Gemeinschaft ungehindert teilnehmen können.

Es spricht also manches dafür, dass unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes in Verbindung mit einer Reihe von Grundrechten ein Handlungsauftrag an den Gesetzgeber abzuleiten ist, das Recht der Assistenz neu und einheitlich zu gestalten. Politisch gilt allemal: eine Neugestaltung bei der Assistenz ist überfällig und sollte umgehend in Angriff genommen werden.

Lassen Sie mich abschließend noch einige Gesichtspunkte erörtern, wie eine solche gesetzliche Neurgelung aussehen könnte.

Alle unterschiedlichen Formen des Hilfebedarfs müssten aus einer Hand gewährt werden, unabhängig davon, bei welchen Handlungen oder zu welchem Zweck die Hilfe benötigt wird. Ob also Assistenz bei den persönlichen Verrichtungen, beim Schulbesuch, bei der Arbeit, der Kindererziehung, der Kommunikation, bei kulturellen oder politischen Aktivitäten oder wo auch immer benötigt wird: jede benötigte Assistenzleistung muss umfasst sein. Entscheidend wird natürlich sein, wie die Leistungsvoraussetzungen definiert werden. An sich wäre die Formulierung „Hilfe bei den Verrichtungen des täglichen Lebens" recht gelungen. Sie macht deutlich, dass es um alle Verrichtungen geht, die von nichtbehinderten Personen ohne fremde Hilfe selbstständig wahrgenommen werden. Diese Definition geht auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zurück, wurde später zunächst im Bundesversorgungsgesetz und dann auch im SGB XI in die Gesetzessprache übernommen. Gerade durch die Pflegeversicherung aber ist sie entwertet, weil sie dort in der Reduzierung auf einige spezielle Verrichtungen verwendet wird. Es ist immer schwierig, eine einmal verwendete Formulierung mit anderem Bedeutungszusammenhang zu versehen.

Ich würde deshalb vorschlagen, etwa „Assistenz bei Aktivitäten zur Teilhabe an der Gesellschaft". Dies würde anknüpfen auch an die Merkmale von Behinderung in der ICIDH-2-Klassifikation. Assistenz bei Aktivitäten stellt klar, dass es um den Ausgleich von Aktivitätsbeeinträchtigungen gibt. Durch das Ziel der Teilhabe würde ein wesentlicher Ansatz des SGB IX und zugleich der Partizipation-Aspekt der ICIDH-2 aufgegriffen. Nicht enthalten wäre ein Hinweis auf die Zielrichtung der jeweiligen Aktivität, so dass also jeder Teilbereich der Assistenz erfasst wäre.

Wegen des Sachzusammenhangs würde es sich anbieten, eine neue Assistenz-Leistung durch Aufnahme eines neuen Titels im SGB IX zu regeln. Die allgemeinen Vorschriften z.B. über das Wunsch- und Wahlrecht, die Koordinierung der Leistungen etc. würden dann automatisch auch auf die Assistenz-Leistung Anwendung finden. Ob hiermit auch verbunden sein sollte, dass die Leistung über die Integrationsämter abgewickelt werden sollte, wird noch zu prüfen sein. Dafür spricht, dass hierüber besser als z.B. über Behörden der kommunalen Selbstverwaltung eine relativ einheitliche Handhabung gewährleistet werden könnte und die Erfahrungen, die bereits mit der Arbeitsassistenz gesammelt werden können. Dagegen könnte sprechen, dass die Integrationsämter bisher mit anderen Bereichen der Assistenz nicht befasst waren und mit dem bisherigen Personal die Leistungsabwicklung nicht ohne weiteres übernehmen könnten.

Die Abwicklung der Assistenz-Leistung müsste nach dem Budget-Prinzip erfolgen, wie bei der Arbeitsassistenz bereits jetzt vorgesehen. Allerdings müssten die Einzelheiten der Budget-Festsetzung noch geklärt werden. Jedes Budget hat den Nachteil, dass es sich um eine gewisse Pauschalleistung handelt. Diese muss so exakt bemessen sein, dass die AssistenznehmerInnen sich damit auch die bedarfsgerechte Assistenz besorgen können. Unterschiede im Umfang des Assistenzbedarfs müssen daher entsprechend berücksichtigt werden. Das Budget könnte als Zeitbudget geregelt werden oder als Geldbudget. Zeitbudget würde bedeuten, der Assistenznehmer erhielte einen bestimmten Umfang an Stunden, für die er sich die notwendige Leistung dann am Markt besorgt. Der Stundensatz könnte hier je nach Anbieter variieren, wodurch dann unterschiedliche Beträge bei gleichem Zeitbudget herauskämen. Das Geldbudget würde bedeuten, dass der Gesamtbetrag festgelegt wird, der für AssistenznehmerInnen in einem bestimmten Zeitraum – z.B. monatlich – zur Verfügung steht. Im Bundesversorgungsgesetz wird die Pflegezulage in sechs verschiedenen Stufen erbracht. Ob eine solche Stufenregelung übernommen werden kann, oder ob vielleicht mehr Abstufungen benötigt werden, sollte geprüft werden. Berechnungsgrundlage für das Budget müssen jedenfalls Stundensätze sein, die eine angemessene Entlohnung der Assistenzkräfte ermöglichen würden.

Sicher gibt es noch umfangreichen Klärungsbedarf über die Einzelheiten einer gesetzlichen Neuregelung. Entscheidend wird aber zunächst sein, ob eine politische Mehrheit für eine solche Innovation erreicht werden kann. Die Diskussionen über Änderungen im Sozialrecht gehen im Augenblick eher in Richtung Leistungsreduzierung. Wir werden daher nur dann erfolgreich für unser Anliegen werben können, wenn uns der Nachweis gelingt, dass hiermit durch Effizienzsteigerungen und Verwaltungsvereinfachungen auch Einspareffekte erzielt werden können und systemwidrige Ungereimtheiten beseitigt werden. Es geht ja auch nicht um eine ganz neue Leistung, sondern um die Zusammenführung bisher verstreuter Einzelregelungen in einem Teilbereich, in dem ein Budget besonders effektiv eingesetzt werden kann.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Andreas Jürgens
Karl-Kaltwasser-Str. 27, 34121 Kassel
e-mail: Andreas_Juergens@t-online.de

 

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