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Uretil 033

Az.: B 3 KR 13/02 R

Bundessozialgericht

Im Namen des Volkes

Urteil

Verkündet am 21. November 2002

In dem Rechtsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kläger und Revisionsbeklagter,

gegen

AOK – Die Gesundheitskasse für das Land Brandenburg,
Potsdamer Straße 20, 14513 Teltow,

vertreten durch die Justitiare Hans-Holger Bauer,
Jörg Brust, Anja Mertens, Dr. Karl-Heinz Mühlhausen, Gerald Orthen, Julia Rümler und Katja Weisel,
AOK-Bundesverband, Kortrijker Straße 1, 53177 Bonn

Beklagte und Revisionsklägerin.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 21. November 2002 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ladage, die Richter Prof. Dr. Udsching und Schriever sowie den ehrenamtlichen Richter Gimpel und die ehrenamtliche Richterin Dörr für Recht erkannt:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg vom 6.März 2002 geändert und insgesamt neu gefasst. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 7. April 2000 geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 1999 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger für die Zeit vom 8. April 1999 bis zum 30. September 1999 von den Kosten für die häusliche Krankenpflege in Höhe von 665,83 Euro freizustellen. Hinsichtlich der Zeit vom 1. Oktober 1999 bis zum 31. März 2000 wird die Berufung des Klägers mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Klage unzulässig ist.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten in allen Rechtszügen zu erstatten.

G r ü n d e: I

Es ist streitig, ob die Beklagte auch für Maßnahmen der Behandlungspflege einzutreten hat, die während des Aufenthaltes des Versicherten in einer Kindertagesstätte bzw. in der Schule zu erbringen sind.

Der 1992 geborene Kläger ist bei der Beklagten Krankenkasse (KK) familienversichert. Er leidet an Diabetes. Seit November 1998 benötigt er deswegen vier Mal täglich Insulininjektionen. Wegen der ganztägigen Berufstätigkeit seiner Eltern besuchte er zunächst eine Kindertagesstätte und seit seiner Einschulung (30. August 1999) nach Schulschluss den Schulhort. Er muss täglich zu bestimmten Zeiten sieben kleine Mahlzeiten einnehmen. Zur Bestimmung des Blutzuckers ist er selbst in der Lage. Für das Aufziehen der Insulinspritzen und die Verabreichung der Insulininjektionen um 6.00 Uhr, 11.30 Uhr, 17.20 Uhr und 20.00 Uhr bedarf er dagegen noch der Hilfe. Diese Hilfe leiten grundsätzlich die Eltern. Lediglich die Insulininjektionen um 11.30 Uhr können sie werktags wegen ihrer Berufstätigkeit nicht selbst vornehmen. Die behandelnde Kinderärztin verordnete deshalb quartalsweise ab 18. November 1998 häusliche Krankenpflege in Form einer täglichen Insulininjektion an fünf Tagen pro Woche. Die Maßnahme wird von Mitarbeitern eines ambulanten Krankenpflegedienstes durchgeführt. Die Kosten wurden von der Beklagten bis zum 31. März 1999 übernommen (Bescheid vom 23. November 1998); dabei wurde die Kindertagesstätte als „erweiterte Häuslichkeit" angesehen. Für die Zeit vom 8. April 1999 bis zum 31. März 2000 lehnte die Beklagte hingegen die Gewährung der beantragten häuslichen Krankenpflege ab, weil die Maßnahme in der Kindertagesstätte (bis 29. August 1999) bzw in der Schule oder im Schulhort stattfinde, also nicht, wie in § 37 Abs 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) vorgeschrieben, im Haushalt des Versicherten oder in seiner Familie (Bescheid vom 1. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 1999; Folgebescheide vom 18. Oktober 1999 und 19. Januar 2000).

Die Kosten der Insulininjektionen haben die Eltern des Klägers für die Zeit vom 1. Oktober 1999 bis zum 31. März 2000 in Höhe von 1.282,70 DM (655,83 Euro) bezahlt. Für die vorangegangene Zeit (8. April 1999 bis zum 30. September 1999) hat das Pflegeunternehmen die angefallenen Kosten in Höhe von ebenfalls 1.282,70 DM (655,83 Euro) bis zum Abschluss dieses Rechtsstreits gestundet.

Mit der Klage hat der Kläger die Ansicht vertreten, die Anspruchsvoraussetzungen für häusliche Krankenpflege seien auch dann erfüllt, wenn ein Kind in dem elterlichen Haushalt lebe und sich werktags nur vorübergehend außer Haus aufhalte, um die Kindertagesstätte oder die Schule zu besuchen. Hier sei von einer „erweiterten Häuslichkeit" zu sprechen, in der die „häusliche" Krankenpflege zu erbringen sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, weil häusliche Krankenpflege nur dann gewährt werden könne, wenn der Versicherte sie „in seinem Haushalt oder seiner Familie" erhalte. Das sei bei Aufenthalten in Kindertagesstätten und Schulen nicht der Fall (Urteil vom 7. April 2000). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil geändert und die Beklagte verurteilt, „dem Kläger für den Zeitraum vom 8. April 1999 bis 31. März 2000 die Kosten für häusliche Krankenpflege zu erstatten" (Urteil vom 6. März 2002): Da der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs 3 SGB V nur bestehe, wenn eine im Haushalt lebende Person die Pflege nicht leisten könne, sei mit dem Tatbestandsmerkmal „in der Familie" jeder Ort erfasst, an dem ein Familienmitglied als Haushaltsangehöriger die Pflege persönlich zu erbringen hätte. Dazu gehörten auch Kindertagesstätten, Schulen und Schulhorte.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 37 Abs 2 SGB V.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG für das Land Brandenburg vom 6. März 2002 zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Frankfurt (Oder) vom 7. April 2000 zurückzuweisen.

Der Kläger hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet, soweit es um die Zeit vom 8. April 1999 bis zum 30. September 1999 geht. Allerdings war die Beklagt insoweit nicht zur Erstattung der Kosten, sondern zur Freistellung des Klägers von den – bis zum Abschluss des Rechtsstreits vom Pflegeunternehmen gestundeten – Kosten der häuslichen Krankenpflege zu verurteilen. Für die Folgezeit bis zum 31. März 2000 ist die Revision der Beklagten dagegen begründet, weil die Klage insoweit bereits unzulässig war.

1) Die Klage auf Erstattung der aufgewendeten Kosten für die Pflegemaßnahmen in der Zeit vom 1. Oktober 1999 bis zum 31.März 2000 ist unzulässig, weil es an der nach § 78 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderlichen Durchführung eines Widerspruchsverfahrens gegen die diesen Zeitraum betreffenden Ablehnungsbescheide der Beklagten vom 18. Oktober 1999 und 19. Januar 2000 fehlt.

Auf ein solches Vorverfahren konnte nicht verzichtet werden. Die Voraussetzungen des § 78 Abs 1 Satz 2 SGG, bei deren Vorliegen es eines Vorverfahrens ausnahmsweise nicht bedarf, sind nicht erfüllt. Insbesondere sind die beiden Folgebescheide nicht schon mit ihrer Bekanntgabe Gegenstand des Klageverfahrens geworden (§ 78 Abs 1 Satz 2 Nr 1 iVm § 96 Abs 1 SGG). Die Frage, ob die Tatsachengerichte die Voraussetzungen des § 96 Abs 1 SGG zu Recht angenommen haben, ist im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfen (BSG SozR 3-5425 § 24 Nr 17; BSG SozR 3-1500 § 29 Nr 1); einer Verfahrensrüge der Beteiligten bedarf es insoweit nicht.

Die Vorinstanzen haben, ebenso wie die Beklagte, die Voraussetzungen des § 96 Abs 1 SGG zu Unrecht als erfüllt angesehen. Nach dieser Vorschrift wird ein nach Klageerhebung ergangener neuer Verwaltungsakt Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er den mit der Klage angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. An einer solchen abändernden oder ersetzenden Funktion fehlt es, wenn der neue Verwaltungsakt bei einer regelmäßig zu erbringenden Leistung einen von dem früheren Verwaltungsakt nicht erfassten späteren Zeitraum betrifft. Die in der Vergangenheit – auch vom erkennenden Senat – bei vergleichbarer Prozesslage vertretene Ansicht, in solchen Fällen sei unter dem Aspekt der Prozessökonomie der neue Bescheid zumindest dann in entsprechender Anwendung des § 96 Abs 1 SGG in das laufende Klageverfahren einzubeziehen, wenn es keine relevanten Sachverhaltsabweichungen gebe und es ausschließlich um dasselbe Rechtsproblem gehe, hat sich nicht bewährt und ist deshalb aus Gründen der Rechtssicherheit für verschiedene Rechtsgebiete bereits aufgegeben worden (zB BSG SozR 3-5425 § 24 Nr 17 zum Künstlersozialversicherungsrecht; BSGE 78, 98 = SozR 3-2500 § 87 Nr 12 zum Kassenarztrecht). Es ist vielfach und auch hier im Bereich der häuslichen Krankenpflege, die von mannigfachen Voraussetzungen abhängt, nicht von vornherein erkennbar, ob es um in allen wesentlichen Punkten gleich gelagerte Sachverhalte geht und sich ausschließlich dieselbe Rechtsfrage stellt. Dies wäre aber unabdingbare Voraussetzung, damit die den Verwaltungsakt erlassende Behörde schon bei der Erstellung des Bescheides entscheiden kann, ob sie bei laufendem Klageverfahren gegen einen gleichartigen früheren Bescheid erneut eine Rechtsbehelfsbelehrung nach § 36 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) über die Möglichkeit des Widerspruchs zu erteilen oder nunmehr einen Hinweis auf § 96 SGG über die Einbeziehung des Verwaltungsakts in das laufende Klageverfahren zu geben hat. Auch der Adressat des Bescheides und das Gericht müssten im Falle eines Hinweises nach § 96 SGG sofort bei Kenntnisnahme entscheiden können, ob entgegen diesem Hinweis ein Widerspruchsverfahren durchzuführen bzw der Hinweis auf die Einbeziehung in das Klageverfahren zu Recht erfolgt ist. Um dieser Unsicherheit vorzubeugen, ist eine entsprechende Anwendung des § 96 Abs 1 SGG auf Folgebescheide für spätere Zeiträume auch im hier betroffenen Bereich der (quartalsweise verordneten) häuslichen Krankenpflege (§ 37 SGB V) generell abzulehnen.

Die Bescheide der Beklagten vom 18. Oktober 1999 und 19. Januar 2000 sind auch nicht durch eine (gewillkürte) Klageänderung nach § 99 Abs 1 SGG zum Gegenstand des anhängigen Prozesses gemacht worden. Der 6. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hält es zwar unter bestimmten Voraussetzungen für denkbar, durch prozessuale Vereinbarung zwischen den Beteiligten Folgebescheide für spätere Abrechnungszeiträume unmittelbar zum Gegenstand eines anhängigen vertragsärztlichen Honorarstreitverfahrens zu machen, sodass es keines Widerspruchsverfahrens mehr bedarf (BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 12 und BSGE 78, 98 = SozR 3-2500 § 87 Nr 12). Die Frage, ob dieser Ansicht gefolgt werden kann, kann hier offen bleiben; denn im vorliegenden Fall ist eine solche prozessuale Vereinbarung der Beteiligten nicht zu Stande gekommen. In der erweiternden Antragstellung durch den Kläger und der rügelosen Einlassung der Beklagten auf den erweiterten Klageantrag kann zwar nach § 99 Abs 2 SGG gesetzlich eine zulässige Klageänderung liegen; dies ändert aber nichts daran, dass auch hinsichtlich der geänderten Klage die Prozessvoraussetzung eines Vorverfahrens vorliegen muss, wenn es um einen anderen Streitgegenstand geht. Auch das Gericht kann unzulässige Klagen nicht als sachdienlich zulassen, sondern hat vor einer Klageabweisung wegen Unzulässigkeit aus Gründen der Prozessökonomie in der Regel Gelegenheit zu geben, das Widerspruchsverfahren noch nachzuholen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl 2002, § 99 RdNr 10a mit Rspr-Nachweisen). In der Revisionsinstanz kommt dies freilich wegen des grundsätzlichen Klageänderungsverbots (§ 168 SGG) nicht in Betracht; eine Zurückverweisung an die Vorinstanz allein zu diesem Zwecke wäre untunlich (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Der Beklagte wird deshalb nunmehr über den in der erweiternden Antragstellung vom 7. April 2000 liegenden, mit Blick auf die Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG auch fristwahrenden Widerspruch gegen die mit unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Folgebescheide vom 18. Oktober 1999 und 19. Januar 2000 in einem gesonderten Vorverfahren zu entscheiden haben.

2) Hinsichtlich der Zeit vom 8. April 1999 bis zum 30. September 1999 ist die Revision der Beklagten unbegründet. Der den Leistungsanspruch für diesen Zeitraum verneinende Bescheid vom 1. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 1999 ist rechtswidrig.

Gegenstand des Verfahrens ist insoweit kein Kostenerstattungsanspruch, wovon die Vorinstanzen noch ausgegangen waren, sondern ein Freistellungsanspruch , weil der Kläger (bzw seine Eltern) die notwendige Krankenpflege selbst beschafft, aber noch nicht bezahlt hat; das Pflegeunternehmen hat die Vergütung bis zum Abschluss dieses Rechtsstreits gestundet. Ein solcher Freistellungsanspruch wird von der auf Kostenerstattung zugeschnittenen Regelung des § 13 Abs 3 SGB V umfasst (BSGE 85, 287 = SozR 3-2500 § 33 Nr 37; stRspr).

Die Voraussetzungen des § 13 Abs 3 SGB V sind auch – abgesehen von der Bezahlung der Leistung – erfüllt: „Konnte die KK eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit diese Leistung notwendig war." Der Kläger hat die montags bis freitags – mit Ausnahme der Ferienzeiten – notwendige pflegedienstliche Versorgung mit den mittäglichen Insulininjektionen jeweils vor Quartalsbeginn rechtzeitig unter Vorlage der vertragsärztlichen Verordnung beantragt, die Behandlungsmaßnahmen mussten aus medizinischen Gründen jeweils zu den angegebenen Zeiten erfolgen, waren also nicht aufschiebbar (1. Alternative), und für die Zeit nach Erteilung des Bescheides vom 1. Juni 1999 lag zudem eine Selbstbeschaffung der Leistung infolge rechtswidriger Ablehnung durch die Beklagte (2. Alternative) vor.

Dem Kläger stand während des streitigen Zeitraums ein Sachleistungsanspruch auf Gewährung von Behandlungspflege gemäß § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V zu. Nach dieser Vorschrift erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Die medizinische Notwendigkeit der regelmäßigen und zeitgenauen Insulininjektionen ist unbestritten. Hierbei handelt es sich auch um eine Maßnahme der Behandlungspflege iS des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V. Zur Behandlungspflege gehören nach ständiger Rechtsprechung des Senats (BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 3 und 11) alle Pflegemaßnahmen, die durch eine bestimmte Erkrankung erforderlich werden, auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten bzw Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern. Die Insulininjektionen waren ärztlich verordnet und dienten der Sicherung der ärztlichen Behandlung der Diabeteserkrankung des Klägers.

Entgegen der Auffassung des SG und der Beklagten steht dem Anspruch des Klägers aus § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V nicht entgegen, dass die Behandlungspflegemaßnahmen zunächst in der Kindertagesstätte und danach im Schulgebäude, also nicht im von der Familienwohnung begründeten „häuslichen" Bereich, durchgeführt worden sind. § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V begrenzt die Leistungspflicht der KK nicht räumlich auf den Haushalt des Versicherten oder „seine Familie" als Leistungsort und schließt medizinisch erforderliche Maßnahmen, die bei vorübergehenden Aufenthalten außerhalb der Familienwohnung anfallen, dann nicht aus, wenn sich der Versicherte ansonsten ständig in seinem Haushalt bzw in seiner Familie aufhält und dort seinen Lebensmittelpunkt hat.

Der Wortlaut der hier maßgeblichen Vorschrift rechtfertigt die von der Beklagten und dem SG angenommene Begrenzung nicht. Die erweiternde Auslegung des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V ist nach seinem Wortlaut nicht nur möglich, sondern nach Sinn und Zweck der Bestimmung sowie nach dem Gebot „versichertenfreundlicher" Auslegung, wie es aus § 2 Abs 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) zu entnehmen ist, auch geboten. Nach dieser Vorschrift sind die in den §§ 3 ff SGB I aufgeführten sozialen Rechte, zu denen auch die notwendige Krankenversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gehört (§ 4 Abs 2 Satz 1 SGB I), bei der Auslegung des SGB und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weit gehend verwirklicht werden (Effektivierungsgrundsatz, vgl Mrozynski, SGB I, 2. Aufl 1995, § 2 RdNr 15 ff; Rode SGb 1977, 268, 272). Nach § 2 Abs 1 SGB I dienen die sozialen Rechte der Erfüllung der in § 1 SGB I genannten Aufgaben, insbesondere der Schaffung gleicher Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit junger Menschen. Dazu gehört bei Kindern die Wiederherstellung und Sicherung der Möglichkeit zur sozialen Integration unter Gleichaltrigen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27) in einem Kindergarten bzw in einer Kindertagesstätte sowie der Schulfähigkeit nach Eintritt der Schulpflicht (BSG SozR 2200 § 182 Nr 73; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 22).

Der Wortlaut des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V führt mit „in ihrem Haushalt" und „in ihrer Familie" zwei Alternativen auf, bei denen als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege zu erbringen ist. Zumindest die Alternative „in ihrer Familie" lässt sich räumlich nicht begrenzen. Der im Schrifttum teilweise unternommene Versuch (vgl etwa Krauskopf, Krankenversicherung, Soziale Pflegeversicherung, Stand: Dezember 2001, § 37 RdNr 3; Keß ErsK 1991, 357, 358), hieraus die Begrenzung auf den Haushalt der Familie abzuleiten, ist nicht überzeugend. Schon bei einer Beschränkung des Begriffs „Familie" auf den des Familienrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ergeben sich je nach Anzahl der Verwandten mehrere denkbare Familienhaushalte (so auch Höfler in: KassKomm SGB V § 37 RdNr 15; Poske, Hauspflege, 1990, S 167). Die Formulierung „in ihrer Familie" (statt: „in dem ihrer Familie") legt zudem nicht die Beschränkung auf einen Haushalt der Familie nahe, sondern spricht eher dafür, dass es auf den jeweiligen Aufenthaltsort eines von unter Umständen mehreren, vom Versicherten frei wählbaren Familienverbünden ankommt, dem der Versicherte angehört. In diesem Sinn hat das BSG bereits zur Übernahme von Fahrtkosten nach Abschluss einer Krankenhausbehandlung entschieden (BSGE 40, 88, 89 = SozR 2200 § 184 Nr 2).

Der unklare Gesetzeswortlaut bringt den Willen des Gesetzgebers nur unzureichend zum Ausdruck. Dem Gesetzgeber ging es bei der Umschreibung des Aufenthaltsortes des Versicherten im Rahmen der Behandlungspflege vor allem um die Abgrenzung zur Leistungserbringung im stationären Bereich (Foerster/Pampel-Jabrane, „Häuslich muss nicht immer zu Hause sein", ZfSH/SGB 2000, 214, 215). Die Regelung geht davon aus, dass Behandlungspflege dort zu erbringen ist, wo die Versorgung des Versicherten mit Grundpflege und hauswirtschaftlicher Hilfe, vergleichbar der Versorgung bei stationärer Behandlung im Krankenhaus, sicher gestellt ist (Wenig, KrV 1978, 116, 117). Im Schrifttum wird daher auch angenommen, der Versicherte könne sich ausschließlich zum Zwecke der häuslichen Pflege in „seine" Familie begeben, auch wenn er sonst einen eigenen Hausstand habe; dies habe zu Folge, dass er dort Behandlungspflege zu Lasten der KK in Anspruch nehmen könne, soweit sie von den Familienangehörigen – etwa mangels einschlägiger Qualifikation – nicht erbracht werden kann (vgl Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 37 SGB V RdNr 62; Mrozynski in: Wannagat SGB V, § 37 RdNr 19).

Die Notwendigkeit einer Abgrenzung zum stationären Bereich der Heimpflege stand dann bei der Diskussion anlässlich der Erweiterung des Anspruchs auf häusliche Krankenpflege durch das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) vom 27. Juni 1977 (BGBl I S 1069) im Vordergrund (vgl zum Gesetzgebungsverfahren: Zipperer, DOK 1978, 11, 20). Aus der Notwendigkeit eines eigenen Haushalts wurde der Schluss gezogen, dass bei einem Daueraufenthalt in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe ein Leistungsanspruch nur dann bestehe, wenn die Versorgung des Versicherten nicht (vertraglich) umfassend von der Einrichtung geschuldet sei ( vgl Hanau/Rolfs, VSSR 1993, 237, 252; Gerlach in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand: 1. August 1999, § 37 RdNr 15; Höfler in: KassKomm SGB V § 37 RdNr 14). Die Frage, ob der Haushalt im räumlichen Sinn alleiniger Ort der Leistungserbringung ist, wurde im Zusammenhang mit der Ausweitung des Anspruchs auf häusliche Krankenpflege im KVKG nicht erörtert.

Die Verwendung der Umschreibung „in ihrem Haushalt oder ihrer Familie" als bloße Unterscheidung von der Krankenhausversorgung (vgl Poske, Hauspflege, 1990, S 70 ff, 112 ff) wird schon aus der Ursprungsfassung des § 185 Reichsversicherungsordnung (RVO) aus dem Jahr 1911 deutlich: „Die Kasse kann mit Zustimmung des Versicherten Hilfe und Wartung durch Krankenpfleger, Krankenschwestern oder andere Pfleger namentlich auch dann gewähren, wenn die Aufnahme des Kranken in ein Krankenhaus geboten, aber nicht ausführbar ist, oder ein wichtiger Grund vorliegt, den Kranken in seinem Haushalt oder in seiner Familie zu belassen". Die Formulierung wurde dann als Voraussetzung für den Anspruch auf Behandlungssicherungspflege übernommen, die mit dem KVKG vom 27. Juni 1977 (BGBl I S 1069) als § 185 Abs 1 Satz 2 RVO zunächst als Satzungsleistung eingeführt wurde. Durch das Gesetz über die 19. Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz sowie zur Änderung weiterer sozialrechtlicher Vorschriften (KOV-AnpG 1990) vom 26. Juni 1990 (BGBl I S 1211) wurde die Behandlungssicherungspflege in § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V zur Regelleistung bestimmt. Im Gesetzentwurf (BT-Drucks 11/7343, S 1) wurde dies damit begründet, dass sich die bisherige Ausgestaltung der häuslichen Krankenpflege zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung nicht bewährt habe. Zahlreiche KKn hätten die Satzungsleistung befristet, weil sie beitragsrelevante Einnahmeausfälle durch fehlende Ausgleichsfähigkeit von satzungsmäßigen Mehrleistungen in der Krankenversicherung der Rentner befürchteten. Bei der Einstellung oder Einschränkung von Krankenpflegemaßnahmen zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung müsse aber mit einer wesentlich kostenaufwendigeren Leistungserbringung im Rahmen der ärztlichen Behandlung gerechnet werden. Gesetzgeberisches Leitmotiv war damit die Kostenersparnis. Im Hinblick auf die hier umstrittene Frage der Erbringung von Behandlungspflege außerhalb der Familienwohnung lassen sich aus der Entstehungsgeschichte somit keine Erkenntnisse gewinnen, die für einen Leistungsausschluss sprechen. Insbesondere finden sich keine Äußerungen, die darauf hindeuten, dass ein Leistungsanspruch bei kurzfristigem Verlassen des familiären Wohnbereichs ausgeschlossen und damit ein versorgungsfreier Raum geschaffen werden sollte, in dem der Versicherte trotz des Bestehens einer behandlungsbedürftigen Krankheit von einem Anspruch auf Krankenbehandlung ausgeschlossen sein sollte.

Das Kriterium des Haushalts wurde bei Einführung der Pflegeversicherung auch zur Abgrenzung der Ansprüche bei häuslicher Pflege und stationärer Pflege übernommen. Die im Wortlaut des § 36 Elftes Sozialgesetzbuch (SGB XI) zunächst enthaltene Begrenzung auf den Haushalt des Pflegebedürftigen oder einen anderen Haushalt, in den der Pflegebedürftige aufgenommen ist, wurde aber bereits im Jahre 1996 durch das 1. SGB XI-ÄndG vom 14. Juni 1996 (BGBl I S 830) aufgegeben, weil als selbstverständlich davon ausgegangen worden war, dass es insoweit auf die Örtlichkeit der Pflegemaßnahme nicht ankommen sollte, sondern nur auf die Art der Durchführung (vgl Udsching, SGB XI, 2. Aufl 2000, § 36 RdNr 4; Mrozynski, SGb 1995, 104, 110 unter Hinweis auf die Begründung zum ursprünglichen Gesetzentwurf BT-Drucks 12/5262, S 112).

Ebenso wie im Bereich der Pflegeversicherung kann auch bei der Behandlungspflege der Anspruch des Versicherten nicht davon abhängen, ob er sich zu Hause aufhält. Im Hinblick auf den vorrangigen Zweck der Behandlungspflege, das Ziel der ärztlichen Behandlung, also die Heilung, Besserung oder die Verhütung einer Verschlimmerung einer Krankheit zu sichern, ist der Aufenthaltsort des Versicherten – sofern nicht Krankenhausbehandlung oder vollstationäre Pflege vorliegt – ohne Belang. Im vorliegenden Fall kann die Sicherung des Erfolgs der ärztlichen Behandlung des Klägers während des Kindergarten- und Schulbesuchs in gleicher Weise erreicht werden wie zu Hause.

Auch die Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums, auf die sich die Beklagte beruft (BT-Drucks 14/6758, S 46 f), hebt trotz der Erwähnung des Haushalts nach ihrem Gesamtzusammenhang lediglich die fehlende Leistungspflicht nach § 37 Abs 2 SGB V im stationären Bereich hervor. Die Leistungspflicht der KK scheidet auch nicht deshalb aus, weil das kurzfristige Verlassen des Wohnbereichs dadurch veranlasst wird, dass der Kläger mit dem Besuch einer Schule der gesetzlichen Schulpflicht nachkommt. Eine Leistungspflicht des Schulträgers ist nicht ersichtlich (OVG NRW NVwZ-RR 2001, 34 = DVBl 2000, 1793; OVG Niedersachsen FEVS 52, 140). Ansprüche gegen den Träger der Eingliederungshilfe sind gemäß § 2 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gegenüber dem Anspruch auf Leistungen der GKV subsidiär.

Der Anspruch des Klägers ist schließlich auch nicht gemäß § 37 Abs 3 SGB V ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift besteht der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nur, soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann. Die Eltern des Klägers sind zwar in der Lage, ihren Sohn mit den erforderlichen pflegerischen Maßnahmen zu versorgen, und erfüllen diese Aufgabe auch immer dann, wenn er zu Hause ist. Ihnen ist es jedoch wegen ganztägiger Berufstätigkeit nicht möglich, ihren Sohn auch während des Schulbesuchs mit Insulininjektionen zu versorgen. Der Senat hat bereits in anderem Zusammenhang deutlich gemacht, dass der Inanspruchnahme von Haushaltangehörigen zur Entlastung der Krankenversicherung nach § 37 Abs 3 SGB V Grenzen der Zumutbarkeit gesetzt sind (BSG SozR 3-2500 § 37 Nr 2). Dazu gehört grundsätzlich auch die – vollständige oder teilweise – Aufgabe eines Arbeitsplatzes.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG aF.

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