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Urteil 090

Az.: S 2 SO 17/08 ER

SOZIALGERICHT OLDENBURG

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

der ______ ______,
_______________ __, _____ __________,
vertreten durch _____ ______ als Betreuerin, ______________ __ ______ Antragstellerin, Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt Kroll, Haarenfeld 52 c, 26129 Oldenburg, - 038/08 -

gegen

die Stadt Oldenburg,
vertreten durch den Oberbürgermeister, Pferdemarkt 14, 26122 Oldenburg, - 50 33 Ge 250 - Antragsgegnerin,

hat das Sozialgericht Oldenburg - 2. Kammer - am 28. Februar 2008 durch die Richterin am Sozialgericht de Groot - Vorsitzende - beschlossen:

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die ungedeckten Kosten (Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe) für die ambulante Betreuung der Antragstellerin in ihrer Wohngemeinschaft in der ___________. __ in _____ ________vorläufig –unter dem Vorbehalt der Rückforderung – für die Zeit vom 15. Januar 2008 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31.12.2008, zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe: I.

Streitig ist die Übernahme der ungedeckten Kosten für die ambulante Betreuung der Antragstellerin in einer Wohngemeinschaft.

Die im Jahre 1961 geborene Antragstellerin ist aufgrund einer Hirnschädigung nach Pockenschutzimpfung (spastische Parese der linken Seite; Intelligenzminderung und erhebliche Verhaltsauffälligkeiten mit emotionaler Instabilität) geistig und körperlich behindert. Sie bezieht Pflegegeld der Pflegestufe I sowie eine Waisenrente in Höhe von 240,19 € pro Monat. Die Antragstellerin, die bis zum 25. Februar 2007 bei ihrer Mutter lebte, besucht regelmäßig die Förderstätte der ______________ _____. Für sie gewährte die Antragsgegnerin zuletzt mit Bescheid vom 20.06.2006 Eingliederungshilfe im Umfang von 6 Stunden pro Woche.

Zum 26.02.2007 zog die Antragstellerin in eine Vier-Personen-Wohngemeinschaft in der ___________. __ in _____ _________. Alle vier Personen dieser Wohngemeinschaft benötigen Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Bereits am 31. August 2005 hatte die Antragstellerin einen Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege für den beabsichtigten Einzug in eine eigene Wohnung beantragt. Unter Vorlage des ärztlichen Attestes des Neurologen und Psychiaters Dr. ______vom 09.01.2006 sowie der Stellungnahme des Herrn ______ (Gruppenleiter der Tagesförderstätte der Antragstellerin) vom 06.01.2006 ist sie der Ansicht, aufgrund ihrer geistigen Behinderung und psychischen Erkrankung nicht auf eine stationäre Einrichtung verwiesen werden zu können. Vielmehr sei ihr nur eine Unterbringung in einer kleinen ambulant betreuten Wohngemeinschaft zumutbar.

Die Antragsgegnerin zog den Sozialbericht der ______________ _____ vom 18.07.2005 mit Stellungnahme von deren Mitarbeiterin _____ vom 02.09.2005 und den Entwicklungsbericht der Tagesförderstätte der ______________ für Menschen mit Behinderungen _____ vom 14.12.2004 sowie die Stellungnahme des Herrn ____ (Gesundheitsamt der Antragsgegnerin) vom 26.01.2006 bei. Im Anschluss lehnte sie die Übernahme der ungedeckten Kosten für die ambulante Betreuung der Antragstellerin in der Wohngemeinschaft mit Bescheid vom 26.04.2006 und Widerspruchsbescheid vom 29.11.2006 ab: Grundsätzlich habe die Antragstellerin einen Anspruch auf Eingliederungshilfe. Allerdings sei der Antragstellerin eine Unterbringung im ____________ — einem Heim für Erwachsene mit geistiger Behinderung — zumutbar. Die Antragstellerin habe das erforderliche Mindestmaß an Gruppenfähigkeit. Eine Loslösung der Antragstellerin aus dem mütterlichen Haushalt sei sinnvoll und erforderlich. Eine Schlussfolgerung, wonach die Antragstellerin aufgrund ihrer Verhaltensauffälligkeiten generell nicht stationär untergebracht werden könne, sei nicht nachvollziehbar, zumal die Antragstellerin tagsüber in einem Gruppengefüge von bereits 8 Personen tätig sei. Zwar hätten ambulante Leistungen gern. § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII grundsätzlich Vorrang vor stationären Hilfen. Dies gelte gern. § 13 Abs. 1 Satz 4 SGB XII jedoch nicht in den Fällen, wenn eine geeignete stationäre Einrichtung dem Antragsteller zumutbar sei und die gewählte ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sei. Dieser Fall sei vorliegend gegeben. Denn der von der Antragsgegnerin für die gewünschte Wohnfarm der Vierer-Wohngemeinschaft zu entrichtende Betrag liege um mehr als 300 % über den Aufwendungen für eine stationäre Einrichtung.

Hiergegen hat die Antragstellerin am 05.12.2006 Klage erhoben (Verfahren S 2 SO 249/06), über welche noch nicht entschieden worden ist.

Am 05.02.2007 hat die Antragstellerin darüber hinaus vor dem Sozialgericht Oldenburg die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt (Verfahren S 2 SO 23/07 ER). Das Sozialgericht Oldenburg hat die Antragsgegnerin mit mittlerweile rechtskräftigem Beschluss vom 15.06.2007 zur vorläufigen Übernahme der ungedeckten Kosten für die ambulante Betreuung der Antragstellerin in ihrer Wohngemeinschaft längstens bis zum 31.12.2007 verpflichtet.

Mit am 11.12.2007 bei der Antragsgegnerin eingegangenem Antrag hat die Antragsgegnerin die Übernahme der ungedeckten Kosten für ihre ambulante Betreuung in ihrer Wohngemeinschaft über den 31.12.2007 hinaus beantragt, wobei sie nunmehr die entsprechenden Leistungen in Form eines persönlichen Budgets gemäß § 17 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) gewährt haben möchte.

Die Antragsgegnerin hat diesen Antrag bisher nicht beschieden.

Die Antragstellerin hat am 15.01.2008 erneut die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt. Die Antragsgegnerin hat sich daraufhin bereit erklärt, der Antragstellerin ab 01.01.2008 bis zur Entscheidung über den noch unbeschiedenen Antrag der Antragstellerin vom 11.12.2007 einen Betrag in Höhe der Kosten zu gewähren, der durch eine stationäre Unterbringung der Antragstellerin anfallen würde. Die Antragstellerin hat dieses Teilanerkenntnis angenommen.

Die Antragstellerin ist weiterhin der Ansicht, dass ihr eine stationäre Betreuung im ____________ nicht zumutbar ist. Im Übrigen sei ihre Betreuung in der Wohngemeinschaft nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII verbunden. Unabhängig hiervon erschöpfe sich die Prüfung der in § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII genannten „unverhältnismäßigen Mehrkosten' nicht in einem rein rechnerischen Vergleich, sondern bedürfe auch einer wertenden Betrachtungsweise unter Einbeziehung ihrer schützenswerten Rechtsgüter. Darüber hinaus sei ihr ein Wohnen im ________ nicht zumutbar, weil dort kein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben im Sinne der §§ 1, 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch geführt werden könne.

Die Antragstellerin weist darauf hin, dass die Antragsgegnerin lediglich einen Teil der Kosten ihrer ambulanten Betreuung vorläufig übernommen habe. Die ungedeckten Kosten ihrer ambulanten Betreuung würden gegenüber der ______________ _____ nicht ausgeglichen. Eine Begleichung der ausstehenden Rechnungen sei ihr aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht möglich. Deshalb liege Eilbedürftigkeit vor. Denn die ____________ habe mit Schreiben vom 14.02.2008 darauf hingewiesen, dass sie nicht in der Lage sei, die von der Antragstellerin benötigten Leistungen ohne vollständige Bezahlung bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache zu erbringen.

Die Antragstellerin beantragt;

die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die ungedeckten Kosten ihrer ambulanten Pflege gemäß der §§ 61 ff SGB XII sowie der für sie geleisteten Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff SGB XII vorläufig zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sie hält ihre angefochtenen Bescheide weiterhin für zutreffend. Sie ist der Ansicht, dass die mit der ambulanten Betreuung der Antragstellerin in der ______________ in ________verbundenen Mehrkosten gegenüber einer stationären Betreuung auch dann unverhältnismäßig hoch sind, wenn man berücksichtigt, dass die für die ambulante Wohnform zu erbringenden Kosten nach dem SGB XII durch die drei Mitbewohner anteilig reduziert werden. Im Übrigen sei der Antragstellerin ein Wohnen im ____________ auch zumutbar.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis nur zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die einstweilige Anordnung dient lediglich der Sicherung von Rechten eines Antragstellers, nicht aber ihrer Befriedigung. Sie darf deshalb grundsätzlich nicht die Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen. Etwas anderes gilt ausnahmsweise, wenn ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung ein wirksamer Rechtsschutz nicht erreicht werden kann und dieser Zustand dem Antragsteller unzumutbar ist (Meyer-Ladewig, SGG Kommentar, 8. Aufl. 2005, § 86 b Rdnr. 31). Sowohl die schützenswerte Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist, als auch die Eilbedürftigkeit der begehrten vorläufigen Regelung sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Die Voraussetzungen für den Erlass einer Regelungsverfügung gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG liegen vor. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist die Kammer insoweit auf ihre Ausführungen im rechtskräftigen Beschluss vom 15.06.2007 zum Verfahren 5 2 SO 23/07 ER. Die im Rahmen des zu letzterem Beschluss geführten Beschwerdeverfahrens vorgebrachten Argumente vermögen die Rechtsauffassung des Gerichtes nicht zu ändern. Vielmehr bestärken sie die Kammer in ihrer getroffenen Entscheidung, zumal die Antragsgegnerin selbst in letzterem Verfahren die Beschwerde ohne nachvollziehbaren Grund zurückgenommen hat.

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin selbst ist nicht in der Lage, die Kosten für ihre ambulante Betreuung in der Wohngruppe zu zahlen. Die Rechnungen der mit der Betreuung der Antragstellerin beauftragten Einrichtung, der ______________ _____, werden seit dem Einzug in die Wohngemeinschaft (im Hinblick auf die ungedeckten Kosten) nicht beglichen. Sofern die ungedeckten Kosten der ambulanten Betreuung nicht kurzfristig gezahlt werden, wird die ______________ _____ die Betreuung der Antragstellerin – zumindest zeitweise – einstellen. Ein Verbleib der Antragstellerin in der Wohngemeinschaft wäre dann nicht mehr möglich.

Hinsichtlich des Beginns der einstweiligen Anordnung ist bei der hier streitigen Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII auf den Zeitpunkt des Eingangs des Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bei Gericht – hier also den 15. Januar 2008 – abzustellen. Die Kammer ist nämlich mit dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen der Auffassung, dass ein Anordnungsgrund in Fällen der vorliegenden Art regelmäßig nicht für die Vergangenheit anerkannt werden kann. Denn die aktuelle Notlage, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigen mag, dokumentiert sich erst zum Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bei Gericht. Hinsichtlich der Dauer der einstweiligen Anordnung hielt die Kammer es für angemessen, die einstweilige Anordnung zunächst bis zum Ende des Jahres zu befristen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Rechtsbehelfsbelehrunq:

Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde zum Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Str.1, 29223 Celle angefochten werden. Sie ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses bei dem Sozialgericht Oldenburg, Schloßwall 16, 26122 Oldenburg schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Hilft das SG der Beschwerde nicht ab, legt es sie dem LSG Niedersachsen-Bremen zur Entscheidung vor.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Georg-Wilhelm-Str. 1, 29223 Celle oder bei der Zweigstelle des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen, Am Wall 201, 28195 Bremen schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

de Groot

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