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Ich hatte einen Traum - In unserem Land, in unserer Zeit ...

Ich hatte einen Traum

von Gerhard Bartz

Januar 1999

In unserem Land, in unserer Zeit

Ich heiße Martin und bin fünf Jahre alt. Als Folge einer Behinderung benütze ich einen Rollstuhl. Meinen Eltern wurde von den Behörden unmissverständlich klar gemacht, dass ich einen Sonderkindergarten besuchen muss, damit ich dort gefördert werde. Ich will jedoch viel lieber zusammen mit den Kindern in meinem Wohnviertel sein.

Mein Name ist Sabine, ich bin sieben Jahre alt. Nach einer monatelangen Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern und den Behörden konnte ich von der Förderschule in die Regelschule wechseln. Nach anfänglichen Problemen - meine neuen Schulkameraden waren den Umgang mit Menschen, die mit Krücken laufen, nicht gewohnt - habe ich mich schnell in die Klasse integriert.

Meine Freunde nennen mich Sammy, ich bin 18 Jahre alt und bin an MS erkrankt. Aufgrund dieser Erkrankung finde ich keinen Ausbildungsplatz. Statt dessen werde ich in einem Berufsförderungswerk zum Industriekaufmann ausgebildet. Ich fürchte, dass ich nach dem Ausbildungsende keine Arbeitsstelle erhalte.

Die Hoffnung, hier nochmals raus zu kommen, habe ich (Christoph, 39 Jahre alt) immer noch nicht aufgegeben. Ich habe mir sagen lassen, dass es gar keinen Wert hat, wenn ich das Sozialamt frage, ob es mir ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit durch Übernahme der Assistenzkosten ermöglicht. Die Antwort wäre ein schlichtes "nein". Denn erst müsste der konkrete Bedarf geschaffen werden. Ich müsste mir eine Wohnung besorgen und Assistenten einstellen. Wegen der Kosten für die Assistenz müsste ich mich dann mit dem Sozialamt auseinandersetzen und meine Rechte geltend machen. Nun lebe ich seit der Rehabilitation nach dem Autounfall schon seit fünf Jahren im Behindertenheim. Von meiner Rente bleibt mir nur ein geringes monatliches Taschengeld, das es mir nicht erlaubt, Rücklagen zu bilden. Ich bin mir sicher, dass ich die Zeit bis zur positiven Einigung mit dem Sozialamt finanziell nicht durchstehen kann. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das Sozialamt dieses Hinhalten als Waffe gegen die Ansprüche derer, die aus den Anstalten flüchten wollen, einsetzt.

Ich bin 52 Jahre alt, heiße Claudia und bin aufgrund eines Rückenleidens des öfteren arbeitsunfähig krank. In dieser Zeit müssen meine Arbeitskolleginnen meine Arbeit mit erledigen. Mein Chef weigert sich, eine weitere Person in meinem Aufgabengebiet einzulernen. Im Gegenteil: Mit immer wiederkehrenden abfälligen Bemerkungen über meine eingeschränkte Arbeitsleistung und wiederholten Krankzeiten schafft er mittlerweile ein für mich negatives Klima in der Abteilung. Ich fürchte, dass ich diesem Druck nicht mehr lange standhalte.

Ich heiße Egon, alleinstehend und bin 67 Jahre alt. Nach einem Schlaganfall bin ich stark behindert und brauche in vielen Dingen des täglichen Lebens Hilfe. Der für die Pflegeversicherung maßgebliche Hilfebedarf ist jedoch zu gering. Da ich die von mir benötigte Hilfe auf die Dauer nicht mehr bezahlen kann, bin ich irgendwann auf Sozialhilfe angewiesen. Von meinem früheren Nachbarn weiß ich, dass der innerhalb kurzer Zeit im Altersheim landete, weil das Sozialamt die weitere Übernahme der Kosten verweigerte.

Ich hatte einen Traum ...

  • ich träumte, dass alle Kinder gemeinsam leben und lernen dürfen, dass die Aussonderung behinderter Menschen gar nicht erst zu Debatte steht, dass das Zusammenleben zur Normalität wird;
  • ich träumte, dass behinderte Menschen Ihre Anstalten verlassen können und an einem Ort ihrer Wahl in Freiheit und Selbstbestimmung leben dürfen, wie es nichtbehinderte ganz selbstverständlich als elementares Grundrecht für sich in Anspruch nehmen;
  • ich träumte, dass die Assistenzkosten behinderter Menschen ohne "zumutbaren" Eigenanteil von der Gesellschaft getragen werden. Denn dieses Kostenrisiko ist gleichzusetzen mit anderen, die von der Gesellschaft abgefedert werden. Und den Eigenanteil an den Medikamenten müssen wir ja ohnehin auch bezahlen;
  • ich träumte, dass die Pflegeversicherung, die den Menschen analytisch in Module "zerlegt", human umgestaltet wird. Es kann und darf nicht sein, dass der Mensch per Gesetz allein auf seine medizinischen Defizite reduziert wird. Dies prägt auch das Bild, das sich die Gesellschaft von assistenzabhängigen Menschen macht;
  • ich träumte, dass jeder Mensch im Hinblick auf die derzeitig übliche Praxis der Aufbewahrung alter und pflegebedürftiger Menschen im Laufe seines Lebens ein wenig von seinem Lebensstandard abgibt. Dieses Geld darf jedoch nicht in die Hände der Wohlfahrtsorganisationen gelangen. Denn dort würde zunächst der Apparat wachsen;
  • ich träumte, dass die Mittel, welche Wohlfahrtsorganisationen für ihre eigene Aufrechterhaltung und Darstellung verwenden, dem eigentlichen Zweck zugeführt werden. Es muss ihnen verboten werden, Gewinne zu machen und damit immer weiter zu wuchern. Statt dessen sollten die Mittel so eingesetzt werden, dass sie unmittelbar den betreuten Menschen zugute kommen;
  • ich träumte, dass Menschen im Krankenhaus in einer menschlichen Umgebung genesen können, dass auch behinderte Menschen die von ihnen für erforderlich angesehene Hilfe erhalten, dass dort nicht weiter zu Lasten der Menschen mit Pflegebedarf Personal reduziert wird;
  • ich träumte, dass wirklich alle Menschen gleich sind, dass nicht junge, agile Menschen zu Lasten derjenigen, die eben nicht mehr jung und agil sind, sorgenfrei und ohne auch nur optischen Belastungen leben können;
  • ich träumte auch, dass es trotz aller Bemühungen immer Einrichtungen geben muss. Diese werden aber klein sein, sie werden am selben Ort sein, wo man schon immer gelebt hat, in denen nur die leben, die es wirklich wollen. Und die Heime werden nicht auf der grünen Wiese sondern mitten unter uns sein. So, dass frühere Nachbarn wirklich mal auf ein Plausch vorbei kommen können:
  • ich träumte, dass unseren vielen Arbeitslosen Menschen das Angebot unterbreitet wird, gegen ein geringes, zusätzliches Geld Menschen in Einrichtungen zu unterstützen. Das muss gar keine Pflege sein, Unterhaltung, vorlesen, spazieren gehen, natürlich auf ausschließlich freiwilliger Basis könnte ein erster Schritt zu einer neuen Kultur des Gemeinschaftslebens werden. So bezahlen wir Milliarden für Millionen arbeitslose Menschen, während andere in Anstalten mangels menschlicher Zuwendung regelrecht dahinvegetieren.
  • ich träumte, dass Menschen selbst in Einrichtungen so viel Assistenz erhalten, dass sie wirklich noch Lebensqualität erfahren und nicht als zu am Leben erhaltender, menschlicher Ballast behandelt werden.

Ich erwachte

und hatte plötzlich keine Panik mehr beim Gedanke an das Alter. Doch dann stellte ich fest, dass ich wirklich nur geträumt hatte.

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