Bundesverband
Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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04.09.2016 Offener Brief an MdB's

Offener Brief
an die Damen und Herren Abgeordneten der
Bundestagsausschüsse Arbeits- und Sozialausschuss
Gesundheitsausschuss sowie
Haushaltsausschuss

 

Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) / Umsetzung der Behindertenrechtskonvention / Artikel 3 Grundgesetz

 

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

macht ein faires Teilhabegesetz glücklich? Sofern die Abwesenheit von Unglück bereits Glück bedeutet: ja. Und Unglück gibt es derzeit, im Jahre sieben nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und im Jahre 23 nach Erweiterung des Artikels 3 um den Satz 3 in Abs. 2 unseres Grundgesetzes (GG) um den Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." noch zuhauf. Nach wie vor werden behinderte Menschen mit Bedarf an Nachteilsausgleich um ihre Rechte aus der UN-BRK und des Benachteiligungsverbotes des GG gebracht. Sie werden nachweislich betrogen, erpresst, falsch beraten, alles im Sinne der Haushaltsschonung von Kostenträgern.

Zum Beispiel wird die Kostenübernahme einer langjährig bestehenden personellen Assistenz in Südbaden vom Kostenträger "aus heiterem Himmel" gekündigt. Auf verzweifelte Nachfrage wurde dem behinderten Arbeitgeber erklärt, die Sachbearbeiterin wäre in Urlaub und man würde erstmal bis Februar nächsten Jahres weiterzahlen. Aber dann müsse aufgrund des neuen Gesetzes neu entschieden werden. So führt die Untätigkeit der Politik zu unsäglichen Diskriminierungen durch die Kostenträger. Können Sie sich vorstellen, in welcher Gemütslage der betroffene Mensch das nächste halbe Jahr leben wird? Unternehmen Sie einmal den Versuch, sich in die Gefühlslage jemandes hinein zu versetzen, der auf derartige Leistungen angewiesen ist.

Wir erwarten vom Bundesteilhabegesetz kein Glück. Weniger Unglück in Gestalt von fehlender staatlicher Unterstützung oder dem Negieren berechtigter Ansprüche würde uns dagegen guttun.

Wir erwarten, dass unser Staat behinderten Menschen so entgegentritt, wie es jede nicht behinderte Bürgerin, jeder nicht behinderte Bürger von seinem Staat auch erwarten kann. Davon sind wir heute Lichtjahre entfernt. Sobald wir Nachteilsausgleichsansprüche geltend machen, stoßen wir auf eine Abwehrmacht, die ihresgleichen sucht. Es fängt oft damit an, dass der Sachbearbeiter gerade in Urlaub gegangen ist, gerade ein Sachbearbeiterwechsel vonstattengeht oder ein sonstiger regelmäßig nicht nachvollziehbarer Grund gegeben ist, weshalb selbst in das Antragsverfahren nicht hinreichend rechtzeitig eingetreten werden kann. Im weiteren Verfahren sind Krankheit oder das Ersetzen der Sachbearbeitung durchaus keine Seltenheit. In jedem anderen Sachgebiet würde es eine Vertretungsregelung geben, hier meistens nicht. Die dann auftretenden vielen Fehler werden damit entschuldigt, dass man von dieser Leistungsart noch gar nichts gehört habe. Für die absurdesten Argumente ist man sich nicht zu schade. Das reicht vom Verlangen, dass ein Antragsteller vom Frühstück bis zum Mittagessen mit nacktem Gesäß auf dem Toilettenstuhl ausharren soll, um zu ermöglichen, dass die Assistenz kostensparend andere Menschen versorgen kann und endet noch lange nicht damit, dass man beispielsweise versehentlich die falsche Tabelle verwendet und damit einem Antragsteller mit einem bereits ausgefüllten Vertrag das Eigenheim wegnehmen wollte. Bis hin zum Notar war alles bereits vorbereitet. Auf eine Entschuldigung wartet der Antragsteller bis heute vergeblich.

Behinderte Menschen brauchen menschliche Unterstützung. Diese lässt sich ausschließlich auf Papier in unterschiedliche Hilfearten aufteilen. Statt Hilfe zur Pflege, Hilfe zur Alltagsbewältigung, zur Haushaltsführung, zur Teilhabe brauchen wir Assistenz. Schlicht und einfach Assistenz. Alles andere macht Heerscharen von Wissenschaftlern und Bürokraten froh, die Betroffenen hingegen nicht. Der Betroffene wird im Einzelfall schon einmal, wie in Rheinland-Pfalz geschehen, zur Budgetrückzahlung verdonnert, weil er mit der Unterstützung der Assistenz, die just zu diesem Zeitpunkt von der Eingliederungshilfe bezahlt wurde, eine Toilette aufsuchen musste. Auf der Kostenträgerseite ist die Einstufung in Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege ein reines Lotteriespiel. Menschen, die keine Pflege an sich benötigen, erhalten überwiegend Hilfe zur Pflege. Andere Menschen wiederum, die keinen Finger rühren können, bekommen ihre Assistenz gänzlich über die Eingliederungshilfe finanziert. Statt nun das Teilhabegesetz dazu zu verwenden, diese veralteten Strukturen zu beseitigen und durch modernes tatsächliches Recht zur Teilhabe zu ersetzen, werden sie erneut ausgebaut. So wird bei nicht berufstätigen Menschen die Tatsache, dass ganz oder in Teilen Hilfe zur Pflege bezogen wird, dazu führen, dass mit dem Tag des Rentenbeginns der "Vermögens"-Freibetrag um 50.000 Euro reduziert wird.

Wir möchten darauf verzichten, weitere einzelne Punkte des Gesetzesentwurfes anzugreifen. Das haben schon viele andere getan und wir sind uns sicher, dass bei weitem nicht alle Unzuträglichkeiten im Gesetzentwurf entdeckt wurden. Viele dieser Stellungnahmen wurden veröffentlicht und sind Ihnen bereits bekannt. Der Entwurf trägt die Lüge bereits im Namen und das Desaster setzt sich im Text des Entwurfes fort.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Ein derartiges Gesetz hätten wir bereits 2010 haben können. Wir empfinden es als ein Unding, über Jahre hinweg angehört worden zu sein, persönlich und schriftlich, um dann so gut wie gar nichts davon im Gesetzentwurf wiederzufinden. Im Gegenteil: Im Gesetzentwurf hat sich das Denken vergangen geglaubter Zeiten nachdrücklich zurückgemeldet. In diesem Herbst werden Weichen gestellt. Das sieht die Regierung offensichtlich auch so. Allerdings stellt sie die Weichen in Richtung finstere sozialpolitische Vergangenheit. Warum wird die soziale Aus-sonderung nicht endlich beendet. Natürlich wird heute niemand mehr umgebracht, wie zu Zeiten, als Euthanasie noch ein gesellschaftspolitisches Schlagwort war. Aber wir kennen einige, die vom permanenten Kampf mit staatlichen Strukturen mürbe wurden und den Freitod gesucht haben. Welche Urängste müssen noch überwunden werden, damit behinderte Menschen inmitten der Gesellschaft leben können und dürfen?

Behinderte Menschen haben mehr oder weniger Unterstützungsbedarf. Es wird in den seltensten Fällen vorkommen, dass mehr Bedarf als nötig geltend gemacht wird. Für diese hält jedoch unsere Gesellschaft Heerscharen von Wissenschaftlern, Fachkräften und Bürokratiemitarbeitern bereit, um diesem Missbrauch zu begegnen, aber auch um potentielle Antragstellerinnen und Antragsteller abzuschrecken. Jeder Versuch Dritter, mir meinen Assistenzanspruch herunter zu verhandeln, ist ein Versuch, mir meine Freiheit zu nehmen, mich daran zu hindern, als Gleicher unter Gleichen in unserer Gesellschaft zu leben.

Brauchen wir wirklich das Bundesverfassungsgericht, das die Unwirksamkeit des Gesetzes feststellt? Dieses Gericht hat den Artikel 3 GG so interpretiert, dass Gesetze, die behinderte Menschen schlechter stellen als nichtbehinderte, gegen die Verfassung verstoßen. Damit nicht jeder einzelne Vorgang den Weg beschreiten muss, hoffen wir auf eine abstrakte Normenkontrollklage der Opposition. Diese muss jedoch von über dreißig Abgeordneten der Koalition unterstützt werden. Angesichts des Unrechts, das hier in Gesetzesform gegossen werden soll, muss dies möglich sein.

Sollten wir das Gesetz in dieser Legislaturperiode nicht bekommen, werden wieder viele Jahre ins Land gehen, in denen behinderte Menschen einzeln ihr Recht vor Gericht erkämpfen müssen. Gerichte urteilen mittlerweile in wachsender Zahl, indem sie die veralteten Sozialgesetze (hierzu zählt dann auch das neue Gesetz, sollte es nicht wesentlich verändert verabschiedet werden) im Sinne des Grundgesetzes und der Behindertenrechtskonvention interpretieren. Dieser Weg vor die Gerichte ist jedoch zeitraubend und teuer. Viele Menschen haben auch nicht die Nerven und geben auf. Ist es das, was gewollt ist?

Der vorliegende Gesetzentwurf ist mehr als eine Mogelpackung. Es ist - angesichts des ihm gegebenen Titels und der begleitenden Werbung durch die Regierung - ein versuchter Betrug an behinderten Menschen. Er ist ein Verstoß gegen den Diensteid aller beteiligten Dienststellen und steht im krassen Gegensatz zu allen vorhergehenden Diskussionen. Er ist in unsere Gesellschaft eingeschlagen wie ein Meteorit aus einer fremden Welt. Man könnte der Ansicht sein, seine Autorinnen und Autoren hätten in den letzten Jahren in Quarantäne gelebt.

Abschließend möchten wir Sie noch darauf hinweisen, dass sich Deutschland im Artikel 4 der BRK verpflichtet hat, bestehende Sozialgesetze anzupassen und nur noch konventionskonforme Gesetze zu erlassen. Diese BRK ist in Deutschland geltendes Recht. Was ist von einem Staat zu halten, der sich herausnimmt, selbst zu entscheiden, ob und welches seiner Gesetze er einhält?

Wir bitten um Ihre Unterstützung. Bitte helfen Sie mit, Deutschland von seinen alten sozialpolitischen Strukturen zu entkrusten. Helfen Sie uns, unsere Menschenrechte zurückzugewinnen, die uns in Teilen genommen wurden, sobald wir Hilfe gebraucht haben. Dafür unseren herzlichen Dank!

Mit freundlichen Grüßen

FORUM SELBSTBESTIMMTER ASSISTENZ BEHINDERTER MENSCHEN E.V.
Gerhard Bartz, Vorsitzender

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