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Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.


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Urteil 028

Az.: S 13 KR 73/02 ER

Ausfertigung
Berliner Straße 11
04105 Leipzig
Tel.: (0341) 595-7716

SOZIALGERICHT LEIPZIG

In dem Antragsverfahren

Elke Hauschild,
Holbeinstraße 12, 04229 Leipzig

- Antragsstellerin -

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwälte Gert Schöppler und Kollegen, Mittlerer Graben 54, 97980 Bad Mergentheim Az.: LS/MS

gegen

AOK Sachsen –Die Gesundheitskasse-,

vertreten durch den Vorstand, dieser vertreten durch die Vorstandsmitglieder Rolf Steinbronn, Hans Günter Verhees und Günther Rettich, Sternplatz 7, 01067 Dresden

- Antragsgegnerin -

erlässt die Vorsitzende der 13. Kammer, Richterin am Sozialgericht Krieger, ohne mündliche Verhandlung am 16. Mai 2002 folgenden

Beschluss :

  1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab 01.05.2002 die Kosten für die Behandlungspflege in Höhe von 123,48 Euro täglich zuzüglich Arbeitgeberanteile zu erstatten.
  2. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
  3. Die Antragsgegnerin erstattet der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten zu ¾.

Gründe : I.

Die am 23.01.1961 geborene Klägerin leidet an progressiver Muskeldystrophie. Sie erhält von der Pflegekasse Geldleistungen nach Pflegestufe III.

Auf Grund einer eingeschränkten Atemfunktion musste im Februar 2001 ein Tracheostoma gelegt werden. Auf Grund von Sekretbildung im Atemtrakt ist täglich ein mehrmaliges Absaugen des Sekrets erforderlich. Am 19.04.2001 forderte die Antragstellerin (Ast) die Antragsgegnerin (Ag) zur Stellungnahme auf, auf welche Weise sie die Behandlungspflege gewährleisten wolle. Am 27.04.2001 ging bei der Ag eine Verordnung häuslicher Krankenpflege ein, wonach ein stündliches Absaugen der Atemwege sowie bei Bedarf notwendig sei. Den Leistungsbedarf schätzten die Drs. Frydetzki mit 14 Stunden täglich ein.

Mit Schreiben vom 30.04.2001 teilte die Ag der Ast mit, dass sie vorliegend eine Einzelfallprüfung angewandt habe und daher rückwirkend ab dem 27.02.2001 die Kosten für das Absaugen der Atemwege angemessen erstatten werde. Gehe man bei der Berechnung des Erstattungsbetrages von einem 14stündigen Einsatz aus, sei eine Erstattung in Höhe von 196,00 DM pro Tag durch die AOK Sachsen möglich.

Die Ag beauftragte ferner Herrn Prediger, Pflegefachkraft beim MDK, den Behandlungspflegebedarf einzuschätzen. Dieser führte im Gutachten vom 08.05.2001 aus, dass nach Angaben des Facharztes für Anästhesieologie Dr. med. Renig das Absaugen zum jetzigen Zeitpunkt durchschnittlich ca. zwei- bis dreimal stündlich erforderlich sei. Bei Nichtgewährleistung dieser Maßnahme bestehe Erstickungsgefahr. Da diese Maßnahme zeitlich nicht genau planbar sei, sei die ständige Anwesenheit einer Pflegeperson erforderlich. Der für die Durchführung der einzelnen Maßnahme erforderliche zeitliche Aufwand betrage je nach Situation 3 bis 5 Minuten, inklusive Herausnahme, Reinigung und Wiedereinsetzen der vorhandenen Sprechkanüle. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes erscheine die angegebene Zeit von täglich 14 Stunden für die Durchführung der erforderlichen Absaugmaßnahmen als zu hoch angesetzt. Mit Schriftsatz vom 07.05.2001 teile die Ag durch ihren Bevollmächtigten mit, dass der in Ansatz gebrachte Betrag von 196,00 DM pro Tag nicht nachvollziehbar sei. Der derzeitige Mindestlohn nach BAT betrage pro Stunde etwas 16,50 DM.

Mit Schreiben vom 18.05.2001 teilte die Ag mit, dass auf Grund eines Rundschreibens der Spitzenverbände der Krankenkassen Kosten für eine Ersatzkraft in angemessener Höhe je Einsatztag erstattet werden könnten. Als angemessen werde bei einem 8stündigen Einsatz die nachgewiesenen Aufwendungen bis zu einem Höchstbetrag von 2,5 v.H. der sich aus § 18 SGB IV ergebenden monatlichen Bezugsgröße in Höhe von 4.418,00 DM angesehen. Liege der tägliche Einsatz der Ersatzkraft über 8 Stunden, werde für die tatsächlich aufgewandten Stunden 1/8 des täglichen Höchstbetrages (112,00 DM) zu Grunde gelegt. Somit ergebe sich ein Stundensatz von 14,00 DM. Hiergegen erhob die Ast durch ihren Bevollmächtigten am 31.05.2001 Widerspruch, den die Ag mit Widerspruchsbescheid vom 04.07.2001 zurückwies. Von der Ast selbst und ihrer behandelnden Hausärztin sei ein täglicher Gesamtstundenbedarf von 14 Stunden zum Absaugen der Atemwege angegeben worden. Unter Anwendung des erstattungsfähigen Stundensatzes und der von der Ast genannten Stundezahl habe die Ag rückwirkend ab 27.02.2001 Kosten für die selbstbeschaffte Ersatzkraft in Höhe von 196,00 DM täglich erstattet. Die Aufwendungen seien in angemessener Höhe und für eine angemessene Stundenzahl je Einsatztag zu erstatten. Als angemessen würden bei einem 8stündigen Einsatz die nachgewiesenen Aufwendungen bis zu einem täglichen Höchstbetrag von 2,5 v. H. der sich aus § 18 SGB IV ergebenden monatlichen Bezugsgröße angesehen. Nach vorliegenden Unterlagen und telefonischer Rücksprache mit dem Facharzt für Anästhesieologie und Notfallmedizin Herrn Dr. med. Renig vom Universitätsklinikum Leipzig sei die angegebene Stundenzahl zur Durchführung der erforderlichen Absaugmaßnahmen als zu hoch eingeschätzt worden. Zum jetzigen Zeitpunkt sei bei der Ast durchschnittlich zwei- bis dreimal stündlich das Absaugen der Atemwege erforderlich. Unabhängig davon habe die Ag die Kostenerstattung auf der Grundlage des von der Ast angeführten Durchschnittwertes von 14 Stunden vorgenommen. Damit habe die Ag bereits eine sehr großzügige Verfahrensweise angewandt.

Hiergegen erhob die Ast Klage am 19.07.2001 zum Sozialgericht Leipzig durch ihren Bevollmächtigten. Im Herbst 2001 fanden zwischen der Ast, der Ag und der Stadt Leipzig – Sozialamt – Vergleichsverhandlungen statt. In einem Protokoll vom 17.10.2001 wurde ausgeführt, dass die AOK Sachsen weiterhin von 14 Stunden Behandlungspflege ausgehe. Am 16.11.2001 schloss die Ast mit der Stadt Leipzig – Sozialamt – einen Vergleich, wonach sich die Stadt Leipzig verpflichtete, an die Ast die Kosten für die selbstbeschafften Pflegekräfte für einen Bedarf von 24 Stunden täglich zu bezahlen. Hiervon seien in Abzug die Leistungen der AOK Sachsen im Sinne der Behandlungspflege von 14 Stunden täglich in Abzug zu bringen, so dass volle 10 Stunden täglich auszugleichen seien. A

m 19.04.2002 beantragte die Ast einstweiligen Rechtsschutz.

Sie beantragt,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, ab Mai 2002 ihr Behandlungspflege für 14 Stunden täglich durch Erstattung der hierfür notwendigen Kosten für die Bezahlung selbst eingestellter Pflegekräfte in Höhe von 5213,54 Euro monatlich bist zu Entscheidung in der Hauptsache zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Sie verweist im Wesentlichen auf ihren Widerspruchsbescheid. Ferner fehle es bereits an einem Anordnungsgrund. Die Gerichts- und Verwaltungsakten haben vorgelegen und wurden zum Gegenstand der Entscheidung gemacht. Auf ihren Inhalt wird wegen weiterer Einzelheiten verwiesen.

II.

Der Antrag ist zulässig und zum überwiegenden Teil begründet. Über das von der Ast geltend gemachten Begehren auf vorläufigen Rechtsschutz ist nach Maßgabe der durch das sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (6. SGG-ÄndG) vom 17.08.2001 (BGBl. I S. 2144) zum 02.01.2002 in Kraft getretenen Regelungen der §§ 86 a, 86 b SGG zu entscheiden. In Bezug auf die in § 86 b Abs. 1 SGG nicht erfassten Vornahmesachen kann das Gericht der Hauptsache gem. § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Ast vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Vor In-Kraft-Treten des 6. ÄndG enthielt das Sozialgerichtsgesetz für den Bereich der Vornahmesachen der leistenden Verwaltung keine Regelungen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1977 war jedoch anerkannt, dass auch von den Sozialgerichten bei Vornahmesachen einstweilige Anordnungen erlassen werden können. Darüber hinaus entsprach es der überwiegenden Meinung, vorläufigen Rechtsschutz in Vornahmesachen der leistenden Verwaltung in entsprechender Anwendung von § 123 VwGO zu gewähren. Insoweit ist in der nunmehr für das Sozialgerichtsverfahren vorgenommenen normativen Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes keine wesentliche Änderung zu erblicken.

Vorliegend hat die Ast einen Anordnungsgrund ausreichend glaubhaft gemacht. Soweit die Ast die Behindertenassistentinnen nicht ausreichend bezahlen kann, wäre die lebensnotwendige Behandlungspflege gefährdet. Da unwahrscheinlich ist, dass die Ast bei dem von der Ag zu Grunde gelegten Stundensatz auf Dauer Pflegekräfte findet, droht die Einweisung in ein Pflegeheim. Die Ast kann vorliegend auch nicht zumutbar auf den Sozialhilfeträger verwiesen werden. Dieser hat sich bereits nach mehreren Streitigkeiten vor dem Verwaltungsgericht vergleichsweise dazu bereit erklärt, für 10 Pflegestunden pro Tag aufzukommen. Eine Erhöhung der Hilfeleistung wäre wahrscheinlich erst nach weiteren zeitraubenden Rechtsstreitigkeiten durchzusetzen.

Nach vorläufiger summarischer Prüfung besteht auch ein Anordnungsanspruch. Die Ag hat anerkannt, dass Anspruch auf Erstattung der Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft nach § 37 Abs. 4 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) besteht. Nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts ist die Annahme unzutreffend, die häusliche Krankenpflege dürfe nicht teurer sein als die stationäre Versorgung (BSG v. 28.01.1999 – Az: B 3 KR 4/98 R). Entgegen der Ansicht der Beklagten handelt es sich auch bei der reinen Beobachtung der Atmung des Pflegebedürftigen und der technischen Apparaturen um Behandlungspflege (BSG a.a.O. S. 10). Somit hätte die Krankenkasse eigentlich für die 24stündige Behandlungspflege aufzukommen. Die von der Ast gefundene Lösung, die Grundpflege sowie die Behandlungspflege durch ein und dieselbe Pflegekraft vornehmen zu lassen, entspricht somit dem Gebot der Wirtschaftlichkeit.

In den Verhandlungen mit der Ast und dem Sozialamt hatte die Ag auch bereits erklärt, dass sie für Behandlungspflege von 14 Stunden täglich aufkommen werde. Angesichts des letzten Pflegegutachtens vom 20.01.1995, mit dem eine Pflegebedürftigkeit Stufe III festgestellt wurde, erscheint ein Ansatz von 14 Stunden Behandlungspflege auch nicht überhöht, da der Gutachter dort von einem Pflegeaufwand von mindestens 6 Stunden ausging. Der angesetzte Stundensatz von 14,00 DM erscheint jedoch nicht angemessen. Das Gericht ist an die Festlegung der Spitzenverbände nicht gebunden. Unter Berücksichtigung der Arbeitgeberanteile errechnete sich, sofern man den Spitzenverbänden folgt, für die Pflegekraft ein Stundenlohn unter 5 Euro. Hierfür arbeiten nicht einmal Reinigungskräfte. Auch das Sozialmat erstattet pro Pflegestunde einen Betrag in Höhe von 8,82 Euro. Dies entspricht dem Bundesangestelltentarif BAT-KR 1 Ost, also dem derzeitigen Mindestlohn. Eine Versorgung der Ast durch den mobilen Behindertendienst Leipzig e.V. hätte monatlich sogar 9767,33 Euro gekostet, wie der Kostenvoranschlag vom 20.12.2001 zeigt. Eine preiswertere Möglichkeit wurde bislang von der Ag nicht vorgeschlagen. Insbesondere hat sie die Frage des Gerichts nicht beantwortet, welche Kosten der Ag für die Behandlungspflege pro Stunde entstehen würden, wenn sie die Ersatzkraft selbst stellen würde. Eine Erstattung der Pflegekosten nach der Zahl der Einsätze ist vorliegend nicht möglich, da die Ast rund um die Uhr beobachtet werden muss. Unter Ansatz von 14 Stunden täglich bei einem Stundenlohn von 8,82 Euro nebst Arbeitgeberanteilen ergibt sich im Jahr 2002 ein täglicher Aufwand in Höhe von 152,44 Euro (Arbeitgeberanteil beläuft sich 2002 auf 23,45 %, da in Sachsen der Beitrag des Arbeitgebers für die Pflegeversicherung 0,35 % beträgt). Wegen des darüber hinausgehenden Betrags musste der Antrag zurückgewiesen werden. Insoweit sind die Berechnungen nicht nachvollziehbar.

Die Kostenentscheidung folgt analog § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen diesen Beschluss ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 SGG Beschwerde zum Sächs. Landessozialgericht statthaft. Die Beschwerde ist binnen eines Monats nach Zustellung des Beschlusses beim Sozialgericht Leipzig, Berliner Straße 11, 04105 Leipzig, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftstelle einzulegen.

Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist beim Sächs. Landessozialgericht, Parkstraße 28, 09120 Chemnitz, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Die Vorsitzende der 13. Kammer Krieger Richterin am Sozialgericht ausgefertigt Sozialgericht Leipzig Leipzig, den 16. Mai 2002 als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

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