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Urteil 006

BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 3 KR 9/97 R

.....
Kläger und Revisionsbeklagter,

.....
Prozessbevollmächtigte:

Gegen

Deutsche Angestellten-Krankenkasse, Nagelsweg 27-35, 20097 Hamburg,

Beklagte und Revisionsklägerin.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 16. April 1998 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ladage, die Richter Dr. Udsching und Schriever sowie den ehrenamtlichen Richter Dr. Dufner und die ehrenamtliche Richterin Bröckers

für Recht erkannt:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. Januar 1997 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Revisionsverfahren.

Die Beteiligten streiten um die Versorgung des Klägers mit einem Hilfsmittel.

Der jetzt 14jährige, unterhalb des 10. Brustwirbels querschnittgelähmte Kläger, der bei der beklagten Krankenkasse familienversichert ist, begehrt von der Beklagten die Ausstattung mit einer mechanischen Zugvorrichtung für seinen Rollstuhl (sog. Handbike-Zusatzgerät oder auch Rollstuhl-Bike genannt). Dieses Zusatzgerät wird Ober ein Kupplungsgestänge mit dem Rollstuhl so verbunden, dass der Benutzer des Rollstuhls diesen statt über die Greifreifen mittels einer Handkurbel fortbewegen kann.

Der Kläger lebt mit seinen drei Schwestern im Alter von 10, 8 und 6 Jahren im Haushalt seiner Mutter, die für ihn Pflegegeld erhält. Seit Juli 1987 ist er von der Beklagten mit einem handbetriebenen Rollstuhl für drinnen und draußen mit Zubehör, einem Oberschenkelstützapparat, einem Monova-Kinder-Rollator sowie einem Oberschenkelstützapparat mit Beckenteil versorgt. Die Beklagte hatte ihn außerdem mit einem handbetriebenen Dreirad ausgestattet. Im Februar 1995 beantragte der Kläger die Versorgung mit einem "Rollstuhl-Bike", das ihm der behandelnde Arzt verordnet hatte. Nach dem vom Kläger vorgelegten Kostenvoranschlag sollte ein entsprechendes Gerät des Lieferanten Firma Handbike-T einschließlich des erforderlichen Zubehörs zum Anbau an den Rollstuhl 5.080 DM incl. Mehrwertsteuer kosten. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass ein solches Hilfsmittel nach der Rechtsverordnung vom 13. Dezember 1989 über den Ausschluss der Heil- und Hilfsmittel von umstrittenem therapeutischen Nutzen von der Leistungspflicht der Krankenkassen ausgeschlossen sei. Im übrigen seien die Sicherheitsvorkehrungen sowie die Einhaltung der Höchstgeschwindigkeit von 6 km/h nicht geklärt. Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos. Die Beklagte machte im Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 1995 zusätzlich geltend, dass das Rollstuhl-Bike nicht erforderlich sei, weil es zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse des Klägers nicht benötigt werde. Der Kläger sei mit dem handbetriebenen Rollstuhl ausreichend und zweckmäßig versorgt.

Die hiergegen gerichtete Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 25. Juni 1996). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg die Beklagte verurteilt, den Kläger mit dem begehrten Rollstuhl-Bike zu versorgen (Urteil vom 24. Januar 1997). Der Kläger benötige dieses Hilfsmittel zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse. Hierzu gehöre auch ein körperlicher und geistiger Freiraum, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasse. Durch die Verwendung der Worte "im Einzelfall erforderlich sind" in § 33 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) habe der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, das die konkrete Situation des Versicherten in seinem Lebensumfeld zu berücksichtigen sei. Deshalb sei auch das in der Entwicklungsphase des Klägers erhöhte Mobilitätsbedürfnis als Grundbedürfnis anzusehen.

Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 33 Abs. 1 SGB V. Die Ausstattung mit einem "Rollstuhl-Bike" sei nicht erforderlich um dem Kläger eine Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse zu ermöglichen. Zwar gehöre zu den allgemeinen Grundbedürfnissen auch die Gewährleistung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasse. Dies werde aber bereits durch den handbetriebenen Rollstuhl sichergestellt. Ein darüber hinaus gehendes Mobilitätsbedürfnis sei nicht als Grundbedürfnis anzusehen. Deshalb bestehe der Anspruch auch nicht im Hinblick darauf, dass der Kläger mit seinem handbetriebenen Rollstuhl keine gemeinsame Radtour mit seinen drei kleineren Schwestern unternehmen könne.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 24. Januar 1997 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 25. Juni 1996 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ) erklärt.

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

1. Das LSG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, den Kläger mit einer mechanischen Zugvorrichtung für seinen Rollstuhl zu versorgen. Es verstößt nicht gegen die auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltende Prozessvoraussetzung eines bestimmten Klageantrages (BSGE 60, 87. 90 = SozR 1200 § 53 Nr. 6), dass der Kläger in den Vorinstanzen lediglich allgemein beantragt hat, ihm einen Handbike-Zusatz für seinen Rollstuhl zur Verfügung zu stellen. Der Antrag ist iS der Verurteilung zur Verschaffung einer Sachleistung zu verstehen. Diesem Erfordernis genügt der gestellte Klageantrag, obgleich er offen lässt, welcher Gerätetyp begehrt wird und ob das Gerät übereignet oder nur leihweise zur Verfügung gestellt werden soll. Die KK hat im angefochtenen Bescheid ihre Leistungspflicht wegen fehlender Erforderlichkeit bzw. wegen der Zuordnung des begehrten Gerätes zu den Hilfsmitteln von umstrittenem therapeutischen Nutzen verneint. Der Senat hat bereits in anderem Zusammenhang entschieden, dass eine Klage auf eine nur allgemein umschriebene Leistung zulässig ist, wenn die Entscheidung über die Art der Gewährung (Leihe oder Übereignung) und auch die Spezifizierung der geschuldeten Leistung im Zusammenwirken der Behörde mit dem Leistungsempfänger erfolgt (SozR 3-2500 § 33 Nr. 16). Dies gilt zumindest dann, wenn kein Anhaltspunkt dafür vorliegt, dass die Beteiligten im Falle einer Verurteilung der Behörde über die Auswahl streiten werden, wie dies hier der Fall ist. Dem steht auch nicht entgegen, dass damit ungewiss bleibt, ob die Beklagte ihrer Sachleistungspflicht im Wege der Übereignung oder im Wege der leihweisen Überlassung nachkommt. Hiervon unberührt bleibt die Belastung des Klägers mit einem Eigenanteil, weil das Hilfsmittel die Anschaffung eines allgemeinen Gebrauchsgutes ersetzt, worauf im einzelnen noch einzugehen ist.

2. Das LSG hat im angefochtenen Urteil bereits zutreffend klargestellt, dass sich die Beklagte im ablehnenden Bescheid zu Unrecht darauf berufen hat, ihre Leistungspflicht werde durch die auf der Grundlage von § 34 Abs. 4 SGB V erlassene Rechtsverordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 13. Dezember 1989 (BGBI 1 2237) ausgeschlossen. Das vom Kläger begehrte Zusatzgerät ist in dieser Verordnung nicht aufgeführt.

3. Das Rollstuhl-Bike ist nicht auf Grund der Regelungen des Hilfsmittelverzeichnisses aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. In dem nach § 128 SGB V von den Spitzenverbänden der Krankenkassen erstellten Hilfsmittelverzeichnis sind handbetriebene Zugvorrichtungen für Rollstühle allerdings nicht aufgeführt. Die aktuelle Fassung der einschlägigen Produktgruppe 22 (Bekanntmachung vom 5. Februar 1996, BAnz Nr. 79a, S 33 ff) erwähnt lediglich Dreiräder für Kinder mit Handkurbelantrieb, behindertengerechtes Zubehör für handelsübliche Fahrräder sowie ein elektrisches Rollstuhl-Zuggerät (Nachtrag zum Hilfsmittelverzeichnis, Bekanntmachung vom 6. August 1996, BAnz 1996 Nr 191a). Das BSG hat wiederholt deutlich gemacht, dass das Hilfsmittelverzeichnis nicht die Aufgabe hat, abschließend (als Positivliste) darüber zu befinden, welche Hilfsmittel der Versicherte im Rahmen der Krankenbehandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V) beanspruchen kann, sondern für die Gerichte nur eine unverbindliche Auslegungshilfe darstellt (BSG vom 23. August 1995, SozR 3-2500 § 33 Nr. 16 S 72 - Lese-Sprechgerät; BSG vom 17. Januar 1996, SozR 3-2500 § 33 Nr. 20 S 108 - Luftreinigungsgerät; zuletzt BSG vom 29. September 1997, 8 RKn 27/96, zur Veröffentlichung vorgesehen - Tandem-Therapiefahrrad). Eine den Anspruch des Versicherten ausschließende Wirkung kommt der fehlenden Aufnahme eines Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis auch nicht deshalb zu, weil nach Nr 8 der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Heilmitteln und Hilfsmitteln in der kassenärztlichen und vertragsärztlichen Versorgung (Heil- und HilfsmittelRL) in der Fassung vom 17. Juni 1992, zuletzt geändert am 4. Mai 1996 (BAnz S 5188), Hilfsmittel zu Lasten der Krankenkassen nur verordnet werden dürfen, sofern sie im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt sind. Die darin ausgesprochene Bindung der Ärzte an das nach § 128 SGB V allein von den Spitzenverbänden der KKn erstellte Hilfsmittelverzeichnis ist nicht von der Ermächtigungsgrundlage in § 92 Abs. 1 Nr. 6 SGB V gedeckt. Danach sollen die Bundesausschüsse Richtlinien u.a. über die Verordnung von Hilfsmitteln beschließen. Nr. 8 der Heil- und HilfsmittelRL enthält aber keine eigenständige Regelung der Verordnungsfähigkeit von Hilfsmitteln durch die Bundesausschüsse, sondern nur eine Übernahme der Hilfsmittelverzeichnisse der Spitzenverbände der KKn iS einer dynamischen Verweisung. Wäre dies für den Leistungsanspruch des Versicherten verbindlich, liefe es darauf hinaus, dass die KKn letztlich über den Umfang ihrer gesetzlichen Leistungspflicht selbst entscheiden könnten. Eine gesetzliche Ermächtigung dazu ist nicht erkennbar; auf die verfassungsrechtliche Problematik einer solchen Ermächtigung braucht hier nicht eingegangen zu werden. Selbst wenn Nr. 8 der Heil- und HilfsmittelRL die Ärzte an das Hilfsmittelverzeichnis bände (vgl. jedoch BSG vom 5. Mai 1988, BSGE 63, 163 ff zu Nr. 21 h der ArzneimittelRL), hätte dies nicht zwangsläufig auch für den Leistungsanspruch des Versicherten gegen den Krankenversicherungsträger zu gelten. Denn die ärztliche Verordnung ist nicht Voraussetzung für die Versorgung mit einem Hilfsmittel, der Arztvorbehalt des § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB V gilt insoweit nicht (s § 15 Abs. 3 SGB V; Noftz in: Hauck/Haines, SGB V, § 15 RdNr 17aE, BSG Urteil vom 29. September 1997, 8 RKn 27/96).

4. Der Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einer mechanischen Zugvorrichtung für seinen Rollstuhl ergibt sich nicht bereits aus der nach den Feststellungen des LSG vorliegenden vertragsärztlichen Verordnung (s Urteil des 8. Senats des BSG vom 29. September 1997, 8 RKn 27/96 mwN). Dies folgt zum einen daraus, dass nach § 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V die Krankenkassen unwirtschaftliche Leistungen nicht bewilligen dürfen und nach § 275 Abs. 3 Nr. 3 SGB V die Krankenkassen vor Bewilligung eines Hilfsmittels in geeigneten Fällen durch den Medizinischen Dienst prüfen lassen können, ob das Hilfsmittel erforderlich ist. Hiermit steht zum anderen in Einklang, daß nach den die Verordnungstätigkeit regelnden Bundesmantelverträgen (§ 30 Abs 8 Satz 1 Bundesmantelvertrag-Arzte , Stand: 1. Januar 1996; ebenso § 16 Abs 8 Satz 1 Bundesmantelvertrag-Arzte/Ersatzkassen , Stand: 1. Januar 1996) die Abgabe von Hilfsmitteln einer Genehmigung durch die Krankenkasse bedarf, soweit in ihren Bestimmungen nichts anderes vorgesehen ist, was hier der Fall ist.

5. Versicherte haben im Rahmen der Krankenbehandlung (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V) u.a. Anspruch auf Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit es sich nicht um Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt (§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Das Handbike-Zusatzgerät ist kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Darunter fallen Gegenstände, die allgemein im täglichen Leben verwendet werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 5; SozR 2200 § 182b Nr. 6). Geräte, die für die speziellen Bedürfnisse kranker oder behinderter Menschen entwickelt und hergestellt worden sind und von diesem Personenkreis ausschließlich oder ganz überwiegend benutzt werden, sind grundsätzlich nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen. Dies gilt selbst dann, wenn sie millionenfach verbreitet. sind (z.B. Brillen, Hörgeräte); denn Bewertungsmaßstab ist insoweit der Gebrauch eines Geräts durch Menschen, die nicht an der betreffenden Krankheit oder Behinderung leiden. Die Frage, ob ein Mittel als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens einzustufen ist, stellt sich für einen Gegenstand, der von der Konzeption her vorwiegend für Kranke oder Behinderte gedacht ist, erst dann, wenn er in nennenswertem Umfang auch von insoweit nicht betroffenen Menschen benutzt wird (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 19). Das Handbike-Zusatzgerät kann bauartbedingt nur in der Kombination mit einem Rollstuhl genutzt werden. Es kommt damit für Gesunde nicht in Betracht. Dass ein solches Gerät in der Kombination mit dem Rollstuhl für den Behinderten die Funktion eines Fahrrads ersetzt, wie es von Gesunden benutzt wird, hat nur insoweit Bedeutung, als es um die Tragung eines Eigenanteils durch den Versicherten geht.

6. Das Handbike-Zusatzgerät ist für den Kläger erforderlich iS des § 33 SGB V. Ein Hilfsmittel ist nach der Rechtsprechung (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 3 und 5) erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen ist dabei auch ein gewisser körperlicher und geistiger Freiraum zu rechnen, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst (BSGE 66, 245, 246 = SozR 3-2500 § 33 Nr. 1; vgl. auch SozR 2200 § 182b Nrn. 12, 29, 33, 34 und 37). Hilfsmittel, die dazu dienen, lediglich die Folgen und Auswirkungen der Behinderung in den verschiedenen Lebensbereichen. insbesondere auf beruflichem und wirtschaftlichem Gebiet sowie im Bereich der Freizeitgestaltung, zu beseitigen oder zu mildern, müssen die gesetzlichen KKn nicht zur Verfügung stellen (BSGE 50, 77, 78 = SozR 2200 § 182b Nr. 17). Der Begriff der Erforderlichkeit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne ist, worauf der Senat bereits hingewiesen hat (SozR 3-2500 § 33 Nr. 7) inhaltlich enger als iS des § 13 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und iS des § 40 Bundessozialhilfegesetz {BSHG) iVm §§ 9 und 10 Eingliederungshilfe-VO (EinglHilfe-VO). Das Versorgungsrecht und das Sozialhilferecht gleichen - im Gegensatz zum KV-Recht - auch die Nachteile aus, die aufgrund einer Behinderung in einzelnen Lebensbereichen auftreten (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 30).

Die durch das Handbike-Zusatzgerät erweiterte Nutzungsmöglichkeit des Rollstuhls kann bei dem jugendlichen Kläger nicht nur dem Bereich der Freizeitgestaltung, der in früheren Entscheidungen (vgl. BSG SozR 2200 § 182b Nrn. 30, 34; SozR 3-2500 § 33 Nr. 3) häufig auch mit dem in diesem Zusammenhang missverständlichen Begriff "privater Bereich" bezeichnet worden ist, zugeordnet werden. Der Kläger benötigt das Zusatzgerät vielmehr umfassend zur Integration in den Kreis etwa gleichaltriger Kinder und Jugendlicher, wozu auch seine jüngeren, nicht behinderten Geschwister zählen. § 33 Abs.1 Satz 1 SGB V verlangt die Erforderlichkeit des Hilfsmittels "im Einzelfall"; d.h. es ist auf die individuellen Verhältnisse des Betroffenen abzustellen. Dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung zu § 182b Reichsversicherungsordnung - RVO - (BSG SozR 2200 § 182b Nrn. 30 und 37} sowie zu § 33 SGB V (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 7 und 17 ). Die Zuordnung bestimmter Betätigungen zu den Grundbedürfnissen hängt u.a. auch vom Lebensalter des Betroffenen ab. Für den jugendlichen Kläger geht es nicht allein darum, mit Hilfe des Zusatzgerätes den Radius zu erweitern, den er dann mit seinem Rollstuhl zurücklegen kann, ohne auf die Hilfe Dritter angewiesen zu sein. Maßgebend ist vielmehr, dass der Kläger aufgrund seiner Behinderung nicht oder allenfalls nur sehr eingeschränkt am üblichen Leben seiner Altersgruppe teilnehmen kann, wodurch ihm die Isolation droht. Die Vermeidung einer Isolation durch Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und Kommunikation hat die Rechtsprechung des BSG älteren und behinderten Menschen stets als ein elementares Bedürfnis angesehen, das die Eintrittspflicht der gesetzlichen KV rechtfertigt (BSG Urteil vom 24. Januar 1990 - 3/8 RK 16/87; vom 22. Mai 1984 - 8 RK 45/83 = SozR 2200 § 182b Nr. 30; Urteil vom 3. November 1993 - 1 RK 42/92 = SozR 3-2500 § 33 Nr. 5). Bei Kindern ist insbesondere die Teilnahme am allgemeinen Schulunterricht vom erkennenden Senat als Grundbedürfnis anerkannt worden, das zur Ermöglichung der Kommunikation die Ausstattung mit einem Computer (vgl. Urteil vom 6. Februar 1997 - 3 RK 1/96 = SozR 3-2500 § 33 Nr. 22) und zur Teilnahme am Schulsport die Ausstattung mit einer Sportbrille rechtfertigen kann (Urteil vom 22. Juli 1981 - 3 RK 56/80 = SozR 2200 § 182 Nr. 73). Nach den Feststellungen des LSG fördert das Zusatzgerät die Integration des Klägers im Kreise Gleichaltriger; es verschafft ihm Möglichkeiten. die denjenigen nahekommen. die andere Jugendliche mit Hilfe eines Fahrrades realisieren können. Bei Kindern und Jugendlichen zählt auch die Möglichkeit, spielen bzw. allgemein an der üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger teilnehmen zu können, als Bestandteil des sozialen Lernprozesses ebenso wie der Schulbesuch zu den Grundbedürfnissen. weil in diesem Lebensabschnitt davon entscheidend abhängt, ob gesellschaftliche Kontakte. aufgebaut und aufrechterhalten werden können. Das LSG hat deshalb insoweit zu Recht auf die besonderen Grundbedürfnisse des Klägers als eines Jugendlichen in der Entwicklungsphase abgestellt. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V lässt eine auf alle Versicherten mit identischen Funktionsdefiziten bezogene Prüfung der Erforderlichkeit der Hilfsmittelversorgung ohne Berücksichtigung individueller Bedürfnisse nicht zu. Mit dem an sich zutreffenden Einwand, die Hilfsmittelversorgung iR des § 33 SGB V sei auf die elementare Lebensführung im Rahmen der Grundbedürfnisse beschränkt, verkennt die Beklagte, dass die entwicklungsbedingt notwendige Integration des Klägers im Kreise Gleichaltriger hier ein Grundbedürfnis und mit einfacheren Hilfsmitteln, etwa dem zur Verfügung gestellten Rollstuhl mit Handreifenantrieb, nicht zu decken ist.

Von daher spielt die Tatsache, dass das Zusatzgerät gegenüber dem normalen Handbetrieb des Rollstuhls die Zurücklegung größerer Strecken ermöglicht, bei dem jugendlichen Kläger nur eine untergeordnete Rolle. Maßgebend kann dagegen auch nicht sein, dass das Zusatzgerät auch zur Stärkung der Muskulatur beiträgt. worauf das LSG abgestellt hat. Dieses Ziel lässt sich durch weniger aufwendige Geräte oder durch entsprechende krankengymnastische Übungen mit geringerem Aufwand erreichen. Der Senat kann es weiterhin offenlassen, ob auch bei einem erwachsenen Versicherten, der seinen Rollstuhl im üblichen Umfang mit den Händen bewegen kann, der anstelle eines Fahrrades durch ein Rollstuhl-Zusatzgerät zu erzielende größere Bewegungsfreiraum noch zu den Grundbedürfnissen zählt. Der Auffassung der Spitzenverbände der KKn, wonach die Versorgung mit einer Fahrrad-Rollstuhl-Kombination dann nicht als notwendig anzusehen ist, wenn aus medizinischen Gründen lediglich ein Selbstfahrerrollstuhl erforderlich ist und dieser mit eigener Kraft im üblichen Umfang bewegt werden kann (Die Leistungen 1989, 297), kann bei Kindern und Jugendlichen in dieser Allgemeinheit nicht beigepflichtet werden.

Da es sich um die Erfüllung von Grundbedürfnissen handelt, kommt es nicht darauf an, ob das Hilfsmittel unmittelbar am Körper des Behinderten ausgleichend wirkt oder ob der Ausgleich auf andere Weise erzielt wird (BSG-SozR 2200 § 182b Nr. 12). Die Hilfsmitteleigenschaft hängt auch nicht davon ab, ob die ausgefallene Funktion - hier das Gehen und schnellere Laufen - als solche ersetzt wird. Es genügt, dass ein Mittel Ersatz- oder Ergänzungsfunktionen wahrnimmt (BSGE 50, 77, 78 = SozR 2200 § 182b Nr. 17; SozR 2200 § 182b Nrn. 25 und 26). Weiter ist nicht erforderlich, dass das Hilfsmittel einen Funktionsausfall vollkommen ausgleicht; es genügt, wenn es schon wie hier in Teilbereichen dem Ausgleich körperlicher Defizite dient.

7. Die Ausrüstung des Klägers mit diesem Gerät entspricht auch dem Gebot der Wirtschaftlichkeit, dem in der gesetzlichen KV die Versorgung mit Hilfsmitteln genügen muss (§ 12 Abs. 1 SGB V). Ein weniger aufwendiges Hilfsmittel steht unter Beachtung der Behinderung und der Lebenssituation des Klägers nicht zur Verfügung. Ausgehend von den Tatsachenfeststellungen des LSG müssen die Gebrauchsvorteile des Handbike-Zusatzgeräts für den Kläger zudem als nicht unwesentlich eingestuft werden (zur Bedeutung der Kosten-Nutzen-Relation bei Hilfsmitteln vgl. im einzelnen BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 4). Nach den von der Beklagten nicht mit Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen des LSG ist auch sichergestellt, dass der Kläger das Hilfsmittel nutzen kann.

8. Die Beklagte ist allerdings nicht gehindert, vom Kläger einen Eigenanteil zu verlangen. Unter dem Gesichtspunkt ersparter Aufwendungen kann vom Versicherten eine Eigenbeteiligung dann verlangt werden, wenn anzunehmen ist, dass er ohne die Behinderung einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens angeschafft hätte. Das ist bei Gegenständen der Fall, die jeder Mensch oder jedenfalls die große Mehrzahl aller Menschen besitzt (BSGE 42, 229 = SozR 2200 § 182b Nr. 2 - orthopädische Schuhe als Ersatz für normale Schuhe -, BSGE 77, 209 = SozR 3-2500 § 33 Nr. 19 - Telefaxgerät als Ersatz für Standardtelefon -, BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 5 - Schreibtelefon als Ersatz für Standardtelefon -, BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 15 - antiallergenes Bettzeug als Ersatz für normale Kissen- und Matratzenbezüge), oder wenn davon auszugehen ist, dass ein Hilfsmittel, das zusätzlich in einer völlig anderen, behinderungsunabhängigen, dem alltäglichen Gebrauch zuzurechnenden Weise genutzt werden kann, auch mit hoher Wahrscheinlichkeit so genutzt werden wird (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 16 - Lese-Sprechgerät mit PC-Funktion). Das Handbike-Zusatzgerät soll nach den Angaben des Klägers Funktionen erfüllen, für die ein nichtbehinderter Jugendlicher ein Fahrrad benutzt, das heutzutage nahezu jeder Jugendliche besitzt. Die Beklagte kann daher bei einer Übereignung des beantragten Zusatzgerätes die durchschnittlichen Anschaffungskosten eines handelsüblichen Markenfahrrads als Eigenanteil des Klägers verlangen, wobei der Senat davon ausgeht, dass diese zur Zeit bei 700 DM liegen. Entschließt sich die Beklagte, das Gerät auf Dauer nur leihweise zur Verfügung zu steiler., kann aus den Anschaffungskosten für ein handelsübliches Fahrrad ein laufendes Nutzungsentgelt berechnet und vom Versicherten für die Dauer der Nutzung abverlangt werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.


dpa-Meldung hierzu:

"Rollstuhl-Bike"
Querschnittsgelähmte Jugendliche haben Anspruch auf ein sogenanntes „Rollstuhl-Bike" - eine mechanische Vorrichtung, mit deren Hilfe sie ihren Rollstuhl per Handkurbel wesentlich schneller bewegen können. Das hat das Bundessozialgericht (BSG) jetzt entschieden (Az.: B 3 KR 9/97 R). Die Deutsche Angestellten Krankenkasse muss danach einem 14jährigen Querschnittgelähmten den größten Teil der Kosten (5 000 Mark) für das vom Arzt verordnete „Rollstuhl-Bike" erstatten. 700 Mark muss die Familie selbst bezahlen. (dpa)

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