Das Assistenzmodell - Möglichkeiten und
              Grenzen
 
            
									Elke Bartz, November 1998
 
            
									 In der Bundesrepublik leben ca. 6,9 Millionen Menschen mit
            Behinderungen. Davon zählen rund 1,7 Millionen zum Personenkreis, der den
            Kriterien der Schwerpflegebedürftigkeit aus der Pflegeversicherung
            entspricht. Diese Menschen benötigen mindestens 90 Minuten Hilfe- oder
            besser Assistenzleistungen bei der Bewältigung des Alltags. Von diesen
            Leistungen müssen mehr als die Hälfte, also mindestens 46 Minuten in
            den Bereich der Körperpflege fallen. Natürlich gibt es auch Menschen,
            die über einen geringeren Assistenzbedarf verfügen, der ebenfalls
            abgedeckt werden muß. Die Zahlen in diesem Bereich sind jedoch schwer zu
            ermitteln, da sie statistisch nicht so genau erfaßt werden. 
 
            
									Menschen mit Behinderungen können ihren Assistenzbedarf auf
            verschiedenste Art und Weise sichern
 
            
									 
              
										- durch ehrenamtliche Personen wie Familienmitglieder, Freunde
                und Nachbarschaftshilfen
  
              
										- durch ambulante Dienste wie Caritas, Diakonie, ASB, usw.
                sowie private Pflegedienste
  
              
										- in teilstationäre Einrichtungen
  
              
										- in vollstationäre Einrichtungen
  
              
										- in Servicehäusern
  
              
										- durch das Assistenz- oder ArbeitgeberInnenmodell 
  
            
									
 
            
									Positive Aspekte des Assistenzmodells 
 
            
									 Beim Assistenzmodell beschäftigen Menschen mit
            Behinderungen ihre AssistentInnen selbst. Das bedeutet, sie melden beim
            zuständigen Finanzamt und der Krankenkasse einen sogenannten "Betrieb im
            eigenen Haushalt" an. Dieser Betrieb stellt die Verwaltungsbasis für die
            Beschäftigung der benötigten HelferInnen dar. Das Assistenzmodell ist
            vielen Menschen nach wie vor nicht bekannt. Selbst SozialarbeiterInnen der
            Rehakliniken wissen über diese Alternative der Assistenznahme kaum oder
            gar nicht Bescheid. Kostenträger kennen sich ebenfalls entweder nicht aus
            oder beraten nur unter dem finanziellen Aspekt, da das Assistenzmodell
            vermeintlich hohe Kosten verursacht. 
 
            
									 Rund 1000 Menschen mit Behinderungen (Tendenz steigend)
            organisieren bundesweit ihren Assistenzbedarf mittels des Assistenzmodells.
            Meistens handelt es sich um Menschen zwischen 25 und 50 Jahren. Der
            älteste bekannte Arbeitgeber ist jedoch 98 Jahre alt! Immer mehr Eltern
            und heranwachsende Jugendliche mit Behinderungen entdecken das Assistenzmodell
            als Perspektive eines selbstbestimmten Lebens, wenn diese Jugendlichen nicht
            mehr von den Eltern "versorgt" werden können oder wollen. 
 
            
									Von allen zur Verfügung stehenden Alternativen der
            Assistenznahme bietet das Assistenzmodell die beste Chancen eines
            selbstbestimmten Lebens trotz mehr oder weniger großem Assistenzbedarf.
            Behinderte ArbeitgeberInnen suchen sich ihre AssistentInnen selbst auf dem
            freien Arbeitsmarkt. Dieses geschieht durch Stellenanzeigen in Zeitungen,
            Meldung der jeweiligen Stellen beim Arbeitsamt, Infos am Schwarzen Brett der
            Unis, von Supermärkten und Jugendtreffs sowie durch Mundpropaganda. 
 
            
									 Behinderte ArbeitgeberInnen entscheiden selbst, wer bei ihnen
            arbeitet. Besonders bei umfangreichem Assistenzbedarf im Bereich der
            Körper- und damit verbundenen Intimpflege schätzen behinderte
            Menschen das Assistenzmodell. Der Aspekt der freien Wahl ist für alle
            Betroffenen sehr wichtig, für Frauen mit Behinderung jedoch besonders. Sie
            wählen gezielt weibliche Assistenzpersonen aus, wenn sie nicht von
            Männern "gepflegt" werden wollen. Dieses ist besonders leicht
            nachvollziehbar, wenn man die Erfahrungen von Frauen mit Behinderungen und
            Zivildienstleistenden (Zivis) berücksichtigt. Aber nicht nur mit Zivis,
            auch mit anderen männlichen "Helfern" mußten und müssen Frauen
            immer wieder schlechte Erfahrungen machen. Oft sind sie wegen ihrer physischen
            Abhängigkeit sexuellen Übergriffen ausgeliefert.
            Selbstverständlich sind nicht alle Männer Mißbraucher und
            Vergewaltiger. Doch welcher nichtbehinderten Frau wird zugemutet, sich in
            Anwesenheit fremder Männer zu duschen oder die Toilette aufzusuchen? 
 
            
									 Sollte sich während des Arbeitsverhältnisses
            herausstellen, daß sich ein/e AssistentIn nicht eignet, kann das
            Arbeitsverhältnis gekündigt werden. Andererseits besteht bei
            gegenseitigem Verstehen die Aussicht auf lang bestehende
            Arbeitsverhältnisse, die nach einer gewissen Einarbeitungszeit den Einsatz
            von (für die eigenen Bedürfnisse) spezialisierten Fachkräften
            bedeutet. 
 
            
									 Weder bei der Assistenznahme durch ambulante Dienste noch in
            den diversen Einrichtungen besteht in der Regel die Freiheit zu entscheiden,
            wer die Leistungen erbringt. Dienstpläne bestimmen den Einsatz des
            Personals, bei ambulanten Diensten müssen Fahrtrouten von einem Kunden zum
            anderen effektiv gestaltet werden. Es gibt kaum die Chance, unsympathische oder
            schlecht arbeitende "PflegerInnen" abzulehnen. Auf häufigen Wechsel der
            ins Haus kommenden PflegerInnen haben KundInnen ambulanter Dienste und
            EinrichtungsbewohnerInnen ebenfalls keinen Einfluß. 
 
            
									 Behinderte ArbeitgeberInnen gestalten ihre Dienstpläne
            selbst. Sie entscheiden, in Absprache mit den jeweiligen AssistentInnen, wer
            wann die benötigten Assistenzleistungen erbringt. Das beinhaltet Vorteile
            sowohl für ArbeitgeberInnen als auch für ArbeitnehmerInnen, da diese
            flexibel abgesprochen werden. Bei Inanspruchnahme eines ambulanten Dienstes
            oder in einer Einrichtung besteht diese Flexibilität nicht. Menschen mit
            Behinderungen müssen sich an einmal abgesprochene Zeiten halten. So
            muß zum Beispiel späteres Zubettgehen nach einem Kinobesuch oft
            Wochen vorher angemeldet werden, wenn dies überhaupt möglich ist.
            Andererseits sind Zuspät- oder Zufrühkommen des Dienstes hinzunehmen.
            
 
            
									 Leistungsangebote ambulanter Dienste enden in der Regel an der
            Haustür der KundInnen. Stationäre Einrichtungen erbringen Leistungen
            fast ausschließlich im Heimbereich. Behinderte ArbeitgeberInnen jedoch
            bestimmen selbst, wo die von ihnen benötigte Assistenz erbracht wird, da
            die AssistentInnen sie überallhin begleiten. (Sie erleben
            hauptsächlich Einschränkungen durch den Gesetzgeber, da
            Pflegeversicherungsleistungen nur bis zu sechs Wochen jährlich im Ausland
            erbracht werden. Auch das BSHG sieht Leistungen nur für kurze
            Auslandsaufenthalte vor. Damit werden Menschen mit Behinderung in ihrer
            Freizügigkeit in Bezug auf ihren Aufenthaltsort gegenüber
            Nichtbehinderten benachteiligt.) 
 
            
									Vorhergehend wurden das Arbeitgebermodell und professionelle
            Assistenzanbieter miteinander verglichen. Doch auch gegenüber
            Hilfeleistungen von der Familie, von Freunden und anderen ehrenamtlichen
            AssistenzgeberInnen bietet das Assistenzmodell Vorteile. In einer intakten, gut
            funktionierenden Partnerschaft, in einer Familie, in der sich alle Mitglieder
            gut verstehen, kann eine solche Assistenz durchaus funktionieren. Manch
            assistenznehmende Mensch bevorzugt die Assistenznahme von vertrauten Personen.
            Das ist vollkommen in Ordnung, solange die Rücksichtnahme aufeinander
            gewährleistet und genügend Toleranz für die Bedürfnisse
            aller vorhanden ist. Besonders bei einer zeitintensiven Assistenz, die von nur
            einer Person erbracht wird, sind die Grenzen schnell erreicht. Einerseits hat
            der assistenznehmende Mensch berechtigte Ansprüche und Wünsche auf
            die Gestaltung seines Lebens. Andererseits steht dem assistenzgebenden Menschen
            ebenso das Recht auf die Erfüllung seines individuellen Lebens zu. 
 
            
									 Beim Assistenzmodell wechseln sich in der Regel mehrere
            Menschen bei der Erbringung der Assistenzleistungen ab. Sie verdienen mit
            dieser Arbeit ihren Lebensunterhalt, finanzieren ihr Studium oder bessern, bei
            geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, Taschengeld- oder
            Haushaltskasse auf. Menschen mit Behinderungen bezahlen diese
            Assistenzleistungen. Der behinderte Mensch mutiert also vom "Objekt der
            Hilfebedürftigkeit" zum selbstbestimmten Arbeitgeber, der Anspruch
            auf die benötigten Hilfeleistungen durch Bezahlung dieser erwirbt. Selbst
            bei objektivster Betrachtungsweise präsentiert sich das Assistenzmodell
            als die beste Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens mit
            Assistenzbedarf. 
 
            
									Grenzen des Assistenzmodells 
 
            
									Trotz positivster Darstellung des Assistenzmodells eignet es
            sich nicht für alle Menschen mit Assistenzbedarf. Nicht umsonst findet man
            die meisten behinderten ArbeitgeberInnen in der Altersklasse der 25 bis 50-
            jährigen. Diese verkörpern überwiegend die junge,
            selbstbewußte Generation von Menschen mit Behinderungen, die ihr Recht
            auf ein eigenständiges Leben einfordert. Natürlich gibt es auch
            ältere oder jüngere Menschen mit den gleichen Wünschen und
            Bedürfnissen. Doch gerade bei der älteren Generation gilt Behinderung
            leider oft noch als Schicksal, das hinzunehmen ist. "Nur nicht auffallen, nur
            keine Mühe machen" wurde ihnen beigebracht. Jüngere Menschen
            müssen zunächst das Assistenzmodell und auch die damit verbunden
            Rechte und Pflichten kennenlernen. Sobald sie einmal damit konfrontiert werden,
            stellt es sich für viele als beste Alternative dar. 
 
            
									Assistenzmodell bedeutet nicht nur Freiheit und
            Selbstbestimmung, sondern auch Pflichten und Eigenverantwortung. Behinderte
            ArbeitgeberInnen sind, wie alle anderen ArbeitgeberInnen verpflichtet,
            monatlich korrekte Lohnabrechnungen zu erstellen, oder von Steuerberaterinnen
            erstellen zu lassen. Ihre AssistentInnen verfügen über die gleichen
            Rechtsansprüche (Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall,
            Kündigungsfristen usw.) wie andere ArbeitnehmerInnen auch. Behinderte
            ArbeitgeberInnen müssen zudem Dienstpläne erstellen. Außerdem
            müssen sie die Finanzierung des Assistenzmodells selbst beantragen und,
            leider viel zu oft, vor den Gerichten erstreiten. Eine selbstorganisierte
            Assistenzstunde ist zwar so gut wie immer preiswerter als die Leistungen eines
            ambulanten Dienstes. Besonders bei einer benötigten
            "Rund-um-die-Uhr-Assistenz" sind jedoch stationäre Einrichtungen
            oft billiger. In Bezug auf Lebensqualität, Selbstbestimmung und Freiheit
            gewinnt das Assistenzmodell jeden Vergleich! 
 
            
									Leider bewilligen nur die wenigsten Kostenträger Leistungen
            unter den Gesichtspunkten der Menschenwürde und der Lebensqualität,
            sondern fast ausschließlich nach Kostenaspekten. Daher benötigen
            Menschen, die sich für das Assistenzmodell entscheiden Ausdauer,
            Durchsetzungsvermögen und Mut. Das gilt in erster Linie, wenn die Kosten
            für das Assistenzmodell höher als andere Alternativen sind (siehe
            oben). 
 
            
									Beim Assistenzmodell tragen ArbeitgeberInnen ein
            Unternehmensrisiko. Da heißt, sie selbst müssen für
            Vertretungen im Krankheitsfall und bei Urlaub der AssistentInnen sorgen. Kunden
            ambulanter Dienste tragen dieses Risiko nicht, da sich die Dienste um
            Vertretungen kümmern müssen (was im übrigen durchaus nicht immer
            zuverlässig gelingt, wie die Erfahrungen behinderter Menschen beweisen).
            
 
            
									Eigentlich selbstverständlich ist die Tatsache, daß
            AssistentInnen keine Sklaven sind, die nach Gutdünken hin und her gejagt
            werden dürfen. Trotz des Anspruches auf Leistungen, Pünktlichkeit,
            Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit der AssistentInnen dürfen behinderte
            ArbeitgeberInnen die Rechte und die Menschenwürde der HelferInnen nicht
            mißachten. 
 
            
									Das Angewiesensein auf Assistenz bedeutet immer
            Abhängigkeit in einem gewissen Umfang verbunden mit Kompromissen. Beim
            Assistenzmodell können die notwendigen Kompromisse auf ein Minimum
            reduziert werden. Ganz beseitigen kann sie jedoch niemand, der die
            AssistentInnen als Menschen schätzt und behandelt.  
 
            
									Fazit 
 
            
									Wie Sie dem untenstehenden Verleich der Vorteile und Nachteile
            entnehmen können, entpuppen sich von anderen als Vorteile empfundene
            Punkte wie z.B. höhere Eigenverantwortung mitunter als Nachteile. Manche
            behinderte Menschen müssen dies zunächst einmal (wieder) lernen, da
            Ihnen über Jahre hinweg die Kompetenz für Entscheidungen über
            Ihr Leben durch Dritte (Angehörige, Anstalten u.a.) abgenommen wurde. 
            
            
									Für manche dieser Menschen ist es z.B. eine ganz neue
            Erfahrung, daß man auch Müllgebühren bezahlen
            muß.